Das Modell “Freundschaft +”

„Als Angeklagter haben Sie das letzte Wort“, sagt der Vorsitzende. Es ist der 3. Verhandlungstag im Prozess gegen einen Gesellen, dem die Anklage schwere Vergewaltigung, Körperverletzung, sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener und den Besitz jugendpornografischer Schriften vorwirft.

“Ich musste das aufschreiben”

Mehr als 20 Zeugen sind gehört und zahllose Dokumente verlesen worden. Der Angeklagte erhebt sich. Er hat eine Erklärung vorbereitet. „Ich musste das aufschreiben. Ich bin zu nervös.“ Herr A. entschuldigt sich bei den Nebenklägern – es sind die beiden jungen Männer, die gegen ihn ausgesagt haben. A. entschuldigt sich für seine Aufdringlichkeit – nicht für die Taten, die man ihm zur Last legt. „Ihr beide wisst, dass alles, was passiert ist, einvernehmlich war. Ich habe Fehler gemacht und werde meine Strafe antreten [fünf Jahre hatte die Staatsanwältin gefordert; Anm. d. Red.], aber euer Wunsch, meine Familie zu zerstören, wird nicht in Erfüllung gehen.“

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Alles getan

Wie immer das Urteil ausfallen wird: Es wird nicht an A.s Verteidiger liegen. Bis zum Schlussplädoyer hat er alles getan, um dem Gericht Zweifel anzubieten, ohne dabei A.s Opfer zu verunglimpfen. Sein Mandant hat vieles zugegeben, aber immer gesagt, was an sexuellen Handlungen stattgefunden habe, sei freiwillig – in beiderseitigem Einverständnis also – geschehen.

Ein letzter Antrag

Mit einem letzten Beweisantrag vor dem Ende der Beweisaufnahme hatte der Verteidiger gefordert, A.s Handy zu untersuchen. „Da befinden sich zahlreiche Chats – auch solche zwischen meinem Mandanten und den Nebenklägern –, die niemand bisher gesehen hat.“ Ja, denkt man, das ist zumindest merkwürdig. Niemand von den Polizeibeamten hat sich um die se Chats gekümmert. Gibt es ein Warum? Die Kammer legt eine 30-minütige Pause ein. Die Verteidigung soll ihren Antrag formulieren.

„Wir haben auch ein Ladegerät dazu.“

Nach 30 Minuten zeigt der Vorsitzende ein in Plastikfolie eingeschlagenes Handy. „Wir haben auch ein Ladegerät dazu“, sagt er und hält das Handy in Richtung des Verteidigers. Der zieht seinen Beweisantrag zurück. Das Handy sei zu neu und die fraglichen Chats dort demnach nicht zu finden. Vor der Unterbrechung hatte man tief durchgeatmet: War da eine Wende im Anmarsch? Wieder atmet man tief durch. Warum jetzt die Rücknahme des Beweisantrages? Das Alter des Handys stand doch schon vor der Antragstellung fest.

45 Minuten

Aus der „Merkwürdigkeit“, die man vorher empfand, ist jetzt eine Art Verunsicherung geworden. Hatten Mandant und Verteidigung nicht damit gerechnet, das Handy präsentiert zu bekommen? Die Beweisaufnahme wird geschlossen. Es folgen die letzten Worte des Angeklagten (siehe oben). Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück: „Halten Sie sich in 45 Minuten zur Verkündung des Urteils bereit.“
Es beginnt die Zeit des Nachdenkens, der Fragen, des Zweifelns. Im Kopf hat man A.s letzte Worte. Wem hier sollkanndarf man glauben? Der Verteidiger sieht zwei junge Männer, denen es schwerfällt zuzugeben, was da passiert ist – was sie mitgemacht haben. Wie könnten sie Freunden, der Familie, den Freundinnen erklären, woran sie teilgenommen haben? Auch in einer vermeintlich liberalen Gesellschaft sei das, worum es hier gehe, mit Scham besetzt. Es geht nicht um einen Rachefeldzug, ist der Verteidiger sicher, aber vielleicht gehe es – er sagt das mit anderen Worten – um eine Andersdarstellung der Vergangenheit.

Stecknadelfallstille

45 Minuten später kehrt man in den Saal zurück, um das Urteil zu hören. Sechs Jahre, sechs Monate. A. zückt ein Taschentuch. Vielleicht hatte er nicht mit diesem Urteil gerechnet. Der Vorsitzende begründet – sehr ausführlich – den Spruch, den er, die zwei Berufsrichter an seiner Seite und die beiden Schöffen gefällt haben. Im Saal: Stecknadelfallstille.

Abgewogen

Die Kammer, so der Vorsitzende, habe sehr ausführlich alle Aussagen gegeneinander abgewogen. „Natürlich ist das hier ein Fall, bei dem man normalerweise sagen würde, dass es ein Aussage-gegen-Aussage-Prozess ist.“ Es waren bei allen Taten immer nur zwei Personen anwesend: Der Täter und das jeweilige Opfer. Wie also entscheiden, wem geglaubt werden kann? Die Kammer habe keinerlei Anlass, an der Glaubwürdigkeit der beiden Zeugen zu zweifeln. „Wir haben keinerlei Belastungstendenzen erkennen können. Ganz im Gegenteil. Die beiden jungen Männer haben den Angeklagten in manchen Punkten sogar entlastet. So verhält sich niemand, der Rache ausüben will.“

„Das hat etwas mit Scham zu tun.“

Warum aber haben die beiden jungen Männer erst so spät offenbart, was ihnen geschehen ist? „Das hat etwas mit Scham zu tun, aber auch mit dem unglaublichen psychischen Druck, den A. über Jahre aufgebaut hat.“ Unter anderem wurden Fotos und Videos von den sexuellen Handlungen erstellt, die dann als Druckmittel eingesetzt wurden. A. habe sich, wie das oft in solchen Fällen sei, junge Menschen ausgesucht, deren Persönlichkeit noch nicht gefestigt war.
„Das ist auch hier der Fall gewesen“, erklärt der Vorsitzende und spricht auch von einem Zwiespalt: Es sei für die beiden jungen Männer nicht alles nur negativ gewesen. Da habe einer den Anschein erweckt, sich für sie einzusetzen. „Der Angeklagte hat den Chefs gesagt: Wenn ihr den jetzt kündigt, dann gehe ich gleich mit.“

„Hätte ich mich früher gemeldet …“

Man taucht zurück in die Plädoyers und zurück zum ersten Opfer. Der junge Mann, sagt, nachdem sein Anwalt als Nebenklagevertreter plädiert und sich dem Strafmaß der Staatsanwältin angeschlossen hat: „Ich möchte mich anschließen, aber ich möchte noch sagen, wie leid es mir tut, dass ich nicht früher etwas gesagt habe. Ich hätte ihm dann – er umarmt dabei das zweite Opfer – das alles vielleicht ersparen können.“
Die Kammer sieht einen Angeklagten, der sich die Tatsache, all das sei in gegenseitigem Einvernehmen geschehen, vielleicht aus Selbstschutz, eingeredet hat. Vielleicht, denkt man, ist, was A. gedacht und empfunden hat, eine Art präventiver Selbsthypnose. Er, A., hat, was zwischen ihm und den beiden Opfern stattfand, als „Freundschaft +“ bezeichnet. Es beruhigt das eigene Innere, dass man nicht Teil des Gerichts ist. Man kanndarf pendeln zwischen den Extremen von Schuld und Unschuld, von Zweifeln und Sicherheiten.

Gruselig

Während der Vorsitzende das Urteil begründet, sucht A. immer wieder Augenkontakt mit den beiden jungen Männern. Es gelingt nicht. A. weint. Das Urteil, denkt man, trifft mit jedem Satz der Begründung, irgendwie ohne Gnade bei ihm ein. Seine Familie hat zu ihm gestanden. Steht zu ihm.
Man hört den Vorsitzenden das Wort „gruselig“ aussprechen. Er redet von der Zeugenaussage des Junior-Chefs der Firma, in der A. als Geselle und die beiden jungen Männer als Lehrlinge arbeiteten. „Wenn wir uns fragen, warum die beiden nichts gesagt haben, dann ist diese gruselige Aussage des Junior-Chefs Teil einer möglichen Begründung.“ Man blättert in den Notizen. Wer, hatte der Junior-Chef gesagt, wer würde denn einem Lehrling glauben, der sich mit solchen Vorwürfen an den Meister wendet?
Ja, man würde – so der Junior-Chef – der Sache nachgegangen sein. Aber im Subtext entsteht irgendwie der Eindruck: Wer würde den beiden geglaubt haben?

Zusammengebastelt

Der Vorsitzende nennt das – siehe oben – gruselig und sagt auch, dass A. sich mit seiner Idee von der Einvernehmlichkeit „eine Welt zusammengebastelt“ habe. A. wird nicht verhaftet. Er bleibt auf freiem Fuß. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. A. kann in Revision gehen und wird das vermutlich tun. Am Ende steht er draußen im Hof im Kreis der Menschen, die zu ihm halten.
In den Pausen hat man ein Buch von Claire Dederer gelesen. Es geht um das Thema „Genie oder Monster“. Im letzten Kapitel schreibt Dederer: „Wie gehen wir mit den schrecklichen Menschen in unserem Leben um? Meistens lieben wir sie weiter. […] Liebe beruht nicht auf einem gefällten Urteil, sondern auf der Entscheidung, das Urteil beiseitezuschieben.“
[Claire Dederer: Genie oder Monster; Piper]

 

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