Sie lassen hunderte Briefe neu aufleben: (v.l) Gisela Kohnen (Autorin), Irene Möllenbeck, Norbert Kohnen (Autor), Konrad Flintrop (Satz und Gestaltung), Herbert Kleipaß. NN-Foto: J. Kurschatke

EMMERICH. „Man hat uns alles genommen, nur das nackte Leben haben wir gerettet“, schrieb die Emmericherin Thea Nathan 1948 in einem Brief aus ihrem Exil in Elmhurst, USA. Thea war Jüdin und musste, wie viele andere Menschen, während der NS-Zeit aus Deutschland fliehen.

Ihr Brief ist einer von Hunderten, die im Archiv des Heimatforschers Herbert Schüürman aufbewahrt werden. Schüürman hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben jüdischer Bürger in Emmerich aufzuarbeiten, und suchte ab den 1980er-Jahren den Kontakt zu Geflohenen und ihren Angehörigen in Nord- und Südamerika, Australien und Afrika.

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Er erstellte Familienstammbäume, trug damit bis zu seinem Tod im Jahr 2016 aktiv zur Emmericher Erinnerungskultur bei und gab anonymen Opfern wieder einen Namen.
Heute sind die Worte von Thea Nathan der Titel eines Buches.

Briefe aus dem Exil zusammengefasst

„Nur das nackte Leben“ heißt das offizielle Verzeichnis der Schriftwechsel zwischen Herbert Schüürman und seinen langjährigen Brieffreunden. Mit dem Geschichtsverein Emmerich als Unterstützer hatten die Autoren Norbert und Gisela Kohnen die Möglichkeit, eine Zusammenstellung von Textpassagen zu entwickeln, die einen Einblick in etwa 750 Briefe gibt.

„Ursprünglich war das Buch nicht in dieser Form gedacht, aber als wir die Briefe dann zu Hause gelesen haben, ist uns bewusst geworden, was für ein Schatz an Lebenserfahrung vor uns lag“, beschreibt Norbert Kohnen.

Was als internes Hilfsmittel zum Katalogisieren des Archivs gedacht war, wurde zu einer kommentierten Fassung von Inhaltsangaben. „Wir fanden, dass dieser Schatz es wert sei, einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht zu werden“, berichten die Autoren weiter.

Die Entstehung des Buches

Eine dreijährige Bearbeitungszeit kam von diesem Punkt an auf Norbert und Gisela Kohnen sowie ihre Helfer zu. Die Schriften wurden entziffert und gelesen, schließlich digitalisiert und noch einmal korrigiert, bis sie im letzten Schritt mithilfe eines Layout-Programmes in ihre fertige Form gebracht werden konnten.

Dabei gab es anfängliche Schwierigkeiten: „Herausfordernd waren manche Handschriften. Viele der Autoren schrieben sehr klein, und auch der Schreibstil war an mancher Stelle ein Hindernis. Wir mussten uns in die Briefe hineindenken und versuchen, sie nachzuvollziehen“, erklärt Norbert Kohnen. Und dann gibt es da noch das Urheberrecht.

„Zu Beginn mussten wir die Fragen klären, wem die Briefe überhaupt gehören und ob wir sie veröffentlichen dürfen. Alle Beteiligten sind mittlerweile verstorben“, berichtet Herbert Kleipaß, Vorsitzender des Geschichtsvereins. Die Lösung: Herbert Schüürmans Familie übergab seinen Nachlass 2019 offiziell an die Stadt Emmerich (die NN berichteten). Somit lag die Entscheidung über das weitere Vorgehen bei den Ämtern. Ein Erfolg: Die Stadt stellte alle Materialien zur Verfügung.

Inhalt

Inhaltlich geht es in den Briefen um das Erleben der Verfolgung, die Flucht aus Deutschland bis hin zur Überfahrt nach Amerika und die steinigen Anfänge der Geflüchteten in ihrer neuen Heimat. „Während manche positiv auf ihr Leben in Emmerich vor der NS-Zeit zurückblickten, gab es einige, die nach der Flucht nichts mehr mit der Stadt zu tun haben wollten“, erzählt Norbert Kohnen.

So konnte sich die Überlebende Sophie Nathan nicht vorstellen, nach Deutschland zurückzukehren, nachdem sie bei ihrem ersten und letzten Besuch in Emmerich nach dem Krieg mit einem „Ach, Sie leben noch?“, empfangen worden sei, wie der Autor im Vorwort von „Nur das nackte Leben“ schreibt.

„Es ist unsere Aufgabe, uns mit der Stadtgeschichte zu befassen und daran zu erinnern, dass die NS-Zeit sich nicht wiederholen darf. 49 Juden aus Emmerich konnten ins Ausland flüchten, 42 sind umgekommen und fünf wählten den Freitod“, erläutert Kleipaß abschließend.

Wo das Buch zu finden ist

Die Veröffentlichung des Verzeichnisses ist in limitierter Stückzahl für Nichtmitglieder des Geschichtsvereins für 15 Euro zu haben. Eine digitale Version in englischer Sprache für amerikanische Angehörige gibt es kostenlos auf der Internetseite des Geschichtsvereins.

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