STRAELEN/NIEDERRHEIN. Bill Gates, Whoopie Goldberg, Albert Einstein, Orlando Bloom, Emma Watson: Abgesehen davon, dass ihre Namen weltweit bekannt sind, gibt es noch eine Gemeinsamkeit: Sie haben die Hürden ihrer Lernschwächen überwunden und große Erfolge gefeiert. Mit solchen Herausforderungen sind viele Menschen konfrontiert, vor allem in jungen Jahren können sie unüberwindbar erscheinen. Dass sie aber genau das nicht sind, zeigen auch Vorbilder außerhalb der Promi-Welt. Eine von ihnen ist Joyce Stiers-Michalski.

Was jetzt? Diese Frage stellte sich der gebürtigen Sevelenerin nach der Schule wie vielen anderen vor ihr. Eine erste Idee hatte sie damals schon: „Eigentlich wollte ich als Altenpflegerin arbeiten.“ Aber die Frage nach der Zukunft gestaltete sich dann doch etwas schwieriger. Grund dafür waren ihre Probleme beim Lernen. „Ich verstehe die Dinge manchmal erst langsamer, aber wenn man sie mir erst einmal erklärt hat, habe ich sie auch verstanden“, erzählt die heute 20-Jährige. Trotzdem: „Ich wusste, dass eine normale Ausbildung für mich nicht in Frage kommen würde.“

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Über die Agentur für Arbeit Wesel stieß sie auf das Angebot des SOS Kinderdorf Niederrhein. Dieses bietet seinen Auszubildenden und Umschülern mit besonderen Bedarfen einen geschützten und praxisorientierten Rahmen, um die eigenen Stärken herauszufinden und zu fördern. „Wir haben mehrere Bereiche: Pflege, Floristik, Büromanagement, Verkauf, Hauswirtschaft, Küche“, nennt Thomas Wanders einige Beispiele, der später auch Joyce Stiers-Michalski als Ausbilder begrüßen sollte. Laut ihm sei schon viel gewonnen, wenn man rechtzeitig den richtigen Beruf für sich entdecke. „Wenn man sich für die Materie interessiert, ist der ganze Ablauf viel leichter zu verstehen.“

Um den unterschiedlichen Bedarfen gerecht zu werden, gehören aber auch eine Psychologin und Sozialpädagogen zum Team. So ist es zum Beispiel möglich, zusätzlich zur Berufsschule schulischen Stützunterricht anzubieten.

Optionen ausloten

Schon der erste Besuch vor Ort weckte das Interesse der jungen Frau, also entschied sich die damals 16-Jährige, es mit der einjährigen Berufsvorbereitung (BVB) zu versuchen. Hier konnte sie ihre Stärken und Interessen in den verschiedenen Bereichen ausloten. Schnell merkte sie, dass ihr die Arbeit in der Küche besonders viel Spaß machte. Ihr Vater, selbst leidenschaftlicher Hobbykoch, zeigte ihr zusätzlich ein paar Tricks und Kniffe – rückwirkend betrachtet eine große Hilfe, sagt Stiers-Michalski. „Da wusste ich nämlich: Ich will in die Küche, am besten sofort“, merkt sie mit einem Lachen an.

Nach der BVB erfüllte sich dieser Wunsch mit dem Ausbildungsstart zur Fachpraktikerin Küche. In enger Zusammenarbeit mit ihren Mit-Azubis erkannte sie schon bald, dass man den Menschen ihre Schwächen längst nicht immer sofort anmerkt. „Manchmal dachte ich sogar: Das kann doch gar nicht sein. So habe ich gelernt, dass meine Lernschwierigkeiten kein Problem für meine Welt ist, wie es mir früher eingeredet wurde.“

„Je mehr Mühe ich mir gebe, umso mehr bekomme ich zurück”

In den folgenden drei Jahren lernte sie ihr Handwerk in der Lehr- und Produktionsküche in Kevelaer, einer Schulmensa. Ein Vorteil liegt hier in der besseren Planbarkeit des Alltags. Das heißt aber nicht, dass die Arbeit einfach wäre. „Das Niveau der Fachpraktiker ist erheblich angestiegen“, sagt Thomas Wanders. Auch wenn es sich nicht um eine Vollausbildung zum Koch handle, sage das nichts über die Fähigkeiten der Azubis aus. Auch hier wird auf Qualität geachtet und so viel wie möglich selbst hergestellt.

Aber auch abseits der beruflichen Fähigkeiten hat Stiers-Michalski viel fürs Leben gelernt, wurde erwachsener. So gewöhnte sie sich zum Beispiel ab, zu viel auf einmal zu wollen und zu viele Schritte im Vorfeld zu planen. Und sie lernte, Verantwortung zu übernehmen – für sich und später auch andere BVBler. „Ich war immer schon mit die Lauteste von allen und habe später gerne die Zügel in die Hand genommen“, erzählt sie mit einem Lachen. Auch wenn das ihre Geduld manchmal auf die Probe stellte, wie sie schmunzelnd hinzufügt.

Ihre Entscheidung bereut Joyce Stiers-Michalski bis heute nicht im Geringsten. Sie weiß nun: „Es liegt in meiner Macht, was ich tue und wie viel Mühe ich mir gebe. Je mehr Mühe ich mir gebe, umso mehr bekomme ich zurück. So öffnen sich neue Türen.“

Abschluss als Innungsbeste

Das beweist auch ihr weiterer Werdegang. Nicht nur brachte sie dieses Jahr ihre Prüfung schnell hinter sich, sondern schnitt gleich als Innungsbeste ab – ein merkwürdiges, fast schon unwirkliches Gefühl, findet Stiers-Michalski. In ihrem Ausbilder weckt das vor allem Stolz: „Eine Innungsbeste hatte ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht. Und ich mache diesen Job auch schon fast 30 Jahre“, sagt Thomas Wanders. Er lobt die akribische Vorbereitung seines ehemaligen Schützlings.

Doch gerade in dieser stressigen Phase meldeten sich wieder ihre Probleme zurück. „Ich hatte das Gefühl, ich kann das nicht. Ich habe auf die Blätter geschaut und nichts gesehen.“

Wo andere ihren Erfolg vor allem ihrer Hartnäckigkeit zuschreiben würden, sieht Joyce Stiers-Michalski einen anderen wichtigen Faktor in der großen Unterstützung durch ihre Ausbilder. Diese hätten ihr nicht nur bei Lernschwierigkeiten geholfen, sondern auch bei familiären Herausforderungen. „Ich konnte immer mit ihnen sprechen, egal was war. Es wurde viel Rücksicht auf mich genommen.“ Druck habe sie nie verspürt, die Atmosphäre sei immer familiär gewesen. „So habe ich gelernt, dass es völlig in Ordnung ist, mit anderen Menschen über Probleme zu reden.“ In einer regulären Ausbildung hätte sie diese Erfahrungen vielleicht nicht gemacht, schätzt sie. Zumal es in der Gastronomie erfahrungsgemäß hektisch zugehe. „Aber hier wurde mir gezeigt, dass ich etwas wert bin und etwas kann“, erzählt sie.

Ein großer Schritt nach vorn

Wie sehr das stimmt, hat sie sich und allen anderen immer wieder in den letzten Wochen bewiesen. Seit knapp fünf Monaten arbeitet Stiers-Michalski nämlich als Küchenleiterin in einem à la carte-Betrieb in Straelen. Was sie drei Jahre lang in der Großküche gelernt hat, setzt sie nun in kleinem Rahmen um. „Was Besseres gibt es eigentlich gar nicht“, weiß auch ihr ehemaliger Ausbilder. Ihren neuen Chef, den sie seit ihrer Kindheit kennt, hat sie direkt offen und ehrlich über ihre Probleme informiert, „auch wenn ich eigentlich nicht gerne darüber rede.“

Die Feuerprobe ließ dann nicht lange auf sich warten: Da der vorherige Küchenleiter seinen Aufgaben aus gesundheitlichen Problemen nicht mehr vollständig nachkommen konnte, überließ er seiner Nachfolgerin bereits nach einer Woche Anlernzeit die Küche. „Ich dachte erst, ich hätte drei Monate Zeit, mich auf die Gerichte zu konzentrieren. Es war wirklich hart“, blickt sie zurück. Mittlerweile sitzt die aufstrebende Fachpraktikerin aber fest im Sattel.

Als temperamentvoller Mensch, der frei heraus seine Meinung sagt, musste sie sich erst einmal an die mit ihrer neuen Rolle einhergehende Zurückhaltung gewöhnen. „In dieser Branche braucht man ein dickes Fell“, weiß Wanders. Zur ihrer großen Freude jedoch gefällt den meisten Kunden die Art, wie sie die Dinge angeht. „Es ist das Größte für mich, wenn ein fremder Mensch mein Essen lobt.“ Der Spaß am Beruf steht für sie an oberster Stelle. „Viele Leute verlieren die Lust nach zweieinhalb Jahren. Ich bin froh, dass es mir nicht so ergangen ist.“

Auf eine Vollausbildung zur Köchin möchte Joyce Stiers-Michalski aber dennoch verzichten, nicht nur wegen dem vergangenen Prüfungsstress. „Ich habe gemerkt, dass ich als Fachpraktikerin das Gleiche schaffen kann wie ein Vollausgebildeter. Das Schulische fehlt mir zwar, aber dieses Wissen kann ich mir selbst beibringen.“

Das bedeutet aber nicht, dass sie keine Pläne hätte. „Zu Anfang habe ich immer gesagt, dass ich gerne auf ein Schiff möchte.“ Aber mittlerweile habe sie oft gehört, dass die Arbeit in der Küche das Leben in vielerlei Hinsicht einschränke. „Das merke ich hier schon. Wenn ich dann noch auf einem Schiff wäre, hätte ich wohl gar keinen Freiraum mehr.“ Langfristig möchte sie jedoch viele Erfahrungen sammeln und verschiedene Küchen kennenlernen, die großen wie die kleinen. „Vielleicht auch mal noblere Restaurants, aber das ist derzeit noch in weiter Ferne für mich.“ Eines steht auf jeden Fall schon jetzt fest: Ihr stehen viele Türen offen – weil sie nie aufgegeben hat.

Die Partner
Alle Lehrgänge, Ausbildungen und Umschulungen beim SOS- Kinderdorf Niederrhein werden von der Arbeitsagentur, den Jobcentern der Kommunen oder, im Rehabereich, von der Deutschen Rentenversicherung finanziell gefördert. Die Lehrküche in Kevelaer wird vor allem von der Agentur für Arbeit Wesel gefördert.
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