Unglaubliches Wiedersehen nach 75 Jahren

Drei Vettern verloren sich in den Wirren des 2. Weltkrieges aus den Augen und hörten nie mehr etwas voneinander, nun kamen sie erstmals wieder zusammen

WARDT. 1941 – Hauptbahnhof Berlin: Die Brüder Alfred und Heinz Korytowski nehmen Abschied von ihrem Vetter Gerhard Moses. Er flieht mit seiner Mutter Frieda und zwei Geschwistern vor dem Terror der Nazis. Sie nutzen die letzte Chance, aus Deutschland wegzukommen. Die Flucht von Alfred und seiner Familie ist misslungen, sie müssen in Berlin bleiben. Nach diesem Abschied hat keiner mehr etwas vom anderen gehört, jeder nahm an, dass die anderen die Kriegswirren nicht überlebt haben.

Endlich wieder zusammen: v.l. Heinz, Gerhard und Alfred Korytowski. NN-Foto: Ingeborg Maas
Endlich wieder zusammen: v.l. Heinz, Gerhard und Alfred Korytowski.
NN-Foto: Ingeborg Maas

2016 – Hauptbahnhof Duisburg: Drei Männer, alle über 80 Jahre alt, fallen sich in die Arme. Es sind Alfred, Heinz und Gerhard, die durch einen Zufall voneinander erfahren haben und sich nun – nach 75 Jahren – erstmals wiedersehen. Die drei Jungen erblickten in Breslau das Licht der Welt. Doch sie wurden in eine Zeit hinein geboren, in der Juden nicht mehr friedlich in Deutschland leben konnten. Alfreds Familie blieb in Breslau, wo der Vater eine Schreinerei betrieb. In der „Reichskristallnacht” 1939 ging sie in Flammen auf und die Familie beschloss, nach Bolivien auszuwandern. Sie bestiegen ein Schiff, das sie übers Mittelmeer brachte und warteten vor dem Suez-Kanal auf die Erlaubnis zur Passage. Aber es war zu spät: An diesem Tag brach der zweite Weltkrieg aus, ihr Schiff durfte nicht mehr durch den Kanal und musste zurück nach Genua. Dort warteten schon die braunen Häscher auf die Juden, die auswandern wollten und verhafteten Alfreds Vater. Im April 1945 starb er im KZ Buchenwald.

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Alfreds Tante Frieda Moses dagegen gelang es, mit ihren Kindern – darunter Gerhard – Richtung Shanghai aufzubrechen, wo Gerhards Vater auf die Familie wartete. Doch wie es danach für die Familie Moses weiterging und ob überhaupt jemand überlebt hat, wusste Alfred, der seit 1996 in Wardt lebt, bis vor kurzem nicht. Als im vergangenen Jahr die Frau seines Bruders Heinz verstarb, forschte dessen Tochter aus diesem Anlass im Internet nach eventuellen Familienmitgliedern. Und tatsächlich: Sie stieß auf einen Mark Korytowski, der in München geboren wurde und schon lange in Kanada lebt. Sein Urgroßvater und der Großvater der drei Vettern waren Brüder. Und genau dieser Mark wusste von Vetter Gerhard, dessen Flucht tatsächlich gelungen war. „Als ich dann erfuhr, dass Gerhard noch lebt und ich eine e-mail von ihm erhielt, das war wirklich unfassbar” erzählt Alfred von der ersten Kontaktaufnahme der beiden.

Für Gerhard stand sofort fest: Er musste seine Vettern, an die er sich noch gut erinnern konnte, unbedingt wiedersehen, zumal er seit 1990 wieder in Berlin lebt. Am Donnerstag kam er in ­Duisburg an, wo Alfred und Heinz ihn erwarteten – nach 75 Jahren der Ungewissheit. Ein ganzes Leben haben die drei Männer sich nun zu erzählen. Vor alten Familienfotos und Dokumenten im gemütlichen Heim von Alfred sitzend kommen die Schrecken jener Tage wieder ans Tageslicht. Gerhard erinnert sich noch genau an einige unglaubliche Umstände, die ihm und seiner Familie damals das Leben gerettet haben: „Meine Mutter hat es – dank einer Mischung aus jüdischer Chuzpe und deutscher Arroganz – tatsächlich geschafft, dass ein Nazi-Offizier uns den Ausreisestempel auf die Papiere gesetzt hat. Wir sind dann mit dem Zug durch Sibirien gefahren – genau in der Zeit, in der noch der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin galt.”

Kurz darauf wäre das nicht mehr möglich gewesen. Durch die Mandschurei ging es bis nach Wladiwostok, dann nach Shanghai. Und wieder war es ein SS-Offizizier, der die Familie rettete. „Im Zug wollte ein Soldat meine Mutter vergewaltigen. Ich verstand mit meinen sechs Jahren nicht, was da vorging, ich dachte, er wolle sie schlagen” erinnert sich Gerhard. „Da bin ich um Hilfe rufend aus dem Abteil gerannt. Ein SS-Offizier, der das Abzeichen eines Arztes trug, kam meiner Mutter zu Hilfe. Und als er sah, dass meine Schwester krank war – sie hatte Malaria – hat er ihr Tabletten geholt”. Nach dem Krieg zog die Familie nach Santiago de Chile, später nach Amerika. Doch 1990 kehrte Gerhard nach Berlin zurück. Was bewegt einen Menschen, dessen Großeltern, Tanten und Onkel im KZ umgebracht wurden, wieder in dieses Land zurückzukehren, das seiner Familie dies angetan hat? Die Botschaft von Gerhard Ludwig Korytowski ist eindeutig: „Aus der Hölle ist hier ein Land geboren worden, das demokratisch und weltoffen ist. Vor allem erkennt es das Leid an, das uns angetan wurde und entschuldigt sich auch von offizieller Seite hierfür. So traurig es ist, was passiert ist, so glücklich bin ich heute, dass man nicht sagt: ‚Es ist nicht geschehen‘ sondern dass man diese Vergangenheit zutiefst bedauert. Man muss davon erzählen, aber man darf sich nicht im Elend vergraben, denn nur so führt es zu einer besseren Welt.” Und weil Gerhard dies vor allem der Jugend weitergeben will, spricht er vor Studenten, dreht Dokumentarfilme über sein Leben und hält die Erinnerung wach. Und ist genauso glücklich wie seine Vettern, sich wiedergefunden zu haben.

 

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