Fünf Jahre, zwei Monate
und zehn Tage

Albert Wissigkeit (24) ist nach langer Zeit auf der Walz in seine Heimatstadt Kalkar zurückgekehrt

NIEDERRHEIN. „Da ist am Anfang schon viel Angst dabei, aber man muss die Kinder auch loslassen, damit sie ihren eigenen Weg machen können“, sagen Silke und Ralf Wissigkeit. Umso größer ist jetzt die Freude, denn nach „fünf Jahren, zwei Monaten und zehn Tagen“ (die Mutter hat mitgezählt) ist ihr Sohn Albert am Samstag zurückgekehrt. Hinter dem jungen Mann liegt eine aufregende Zeit der Wanderschaft. Bis nach Indonesien, Malaysia und Singapur ist er während seiner Walz gekommen. „Da war ich insgesamt drei Monate“, sagt der heute 24-Jährige, der mit 19 Jahren aufgebrochen ist, um etwas von der Welt zu sehen und Erfahrungen zu sammeln. Und eine große Portion Abenteuerlust war wohl auch dabei.

Man wird wieder „einheimisch“, indem man sich mit einigen Gesellen außerhalb der Bannmeile (50 Kilometer) trifft und zusammen die Strecke bis zum eigenen Ortsschild zurücklegt. Zwei Tage lang hat Albert Wissigkeit (mit Schärpe) mit seinen Mitstreitern gefeiert – und anschließend seine „Kluft“ endgültig abgelegt. NN-Foto: Rüdiger Dehnen
Man wird wieder „einheimisch“, indem man sich mit einigen Gesellen außerhalb der Bannmeile (50 Kilometer) trifft und zusammen die Strecke bis zum eigenen Ortsschild zurücklegt. Zwei Tage lang hat Albert Wissigkeit (mit Schärpe) mit seinen Mitstreitern gefeiert – und anschließend seine „Kluft“ endgültig abgelegt. NN-Foto: Rüdiger Dehnen

Unterwegs war Albert überwiegend zu Fuß – und per Anhalter. „Man darf für Unterkunft und Reise nichts bezahlen“, nennt er eine der zahlreichen Regeln, die es während der Walz zu beachten gilt. So durfte er auch seine „Kluft“ nicht ablegen und sich seiner Heimatstadt Kalkar nicht mehr als 50 Kilometer nähern. Auf die Idee kam der junge Mann gleich nach Beendigung seiner Bäcker-Lehre. „Man sucht sich einen Altgesellen, der sich auf Wanderschaft befindet, und schließt sich ihm für einige Wochen an“, erklärt er. Bis man weiß, wie es läuft. Die erste Nacht hat er „ganz klassisch“ im Stroh verbracht. Und es sollten noch viele weitere Nächte in Scheunen folgen. Ein Platz auf dem Sofa, im Gartenhäuschen oder im Vorraum einer Bank – auf der Walz darf man keine hohen Ansprüche stellen. „Vieles ergibt sich einfach so im Gespräch“, weiß Albert heute. Und er möchte die Erfahrungen und die vielen Begegnungen nicht missen. Auch die skurrilen Erlebnisse (etwa das aufgebrezelte Paar in München, das ihm mal eben ohne viele Worte 150 Euro zusteckte) oder die rührenden Momente (etwa die Frau, die selbst kein Geld hatte, aber für ihn und seinen Wanderkumpanen zwei „Glückscent“ herauskramte). Denn Arbeitslosengeld ist tabu. „Wir dürfen nur Spenden annehmen, die von Herzen kommen“, nennt Albert eine weitere Regel, an die man sich halten muss.

-Anzeige-
Rückblende: Zum Abschied gab es vor fünf Jahren Küsschen von beiden Omas – und dem Rest der Familie.NN-Foto (Archiv): R. Dehnen
Rückblende: Zum Abschied gab es vor fünf Jahren Küsschen von beiden Omas – und dem Rest der Familie.NN-Foto (Archiv): R. Dehnen

Und auch ohne Geld kommt man weit herum. „Ich war bis oben in Norwegen und unten in Italien“, zählt er auf. „Schön war es am Bodensee“, sagt Albert. Da habe er tagsüber am Wasser gelegen und gelesen und nachts gearbeitet. Oder in Oberstdorf. Da hat er seine Freizeit auf dem Snowboard verbracht. Denn natürlich bleibt das erklärte Ziel der Walz, sich in seinem Beruf weiterzubilden und verschiedene Anstellungen zu finden. „Wenn man Arbeit gefunden hat, sorgt der Chef für Kost und Logis“, erklärt Albert. Und auch, wenn man die Wanderjahre eher aus anderen Handwerksberufen kennt, zeigten sich viele Bäckermeister überaus offen und nahmen den wandernden Gesellen herzlich auf. „Als ich losgezogen bin, waren vier Bäcker unterwegs – heute sind es zwölf“, weiß der junge Mann, der seine Kluft (schwarze Hose und dem Gewerk entsprechend eine karierte Jacke) vor einigen Tagen endgültig abgelegt hat. „Ich hatte das Gefühl, dass jetzt nicht mehr viel kommen kann – und ich lang genug von zu Hause weg war“, erklärt Albert, weshalb er seine Walz nach über fünf Jahren beendet hat. Eine feste Jobzusage hat er bereits. „In Herford“, sagt er. Vielleicht wird er später noch die Meisterschule besuchen. Jetzt will er aber erst mal wieder sesshaft werden.

[quote_box_left]Wanderjahre
Der Begriff Wanderjahre/Walz bezeichnet die Zeit der Wanderschaft zünftiger Gesellen nach dem Abschluss ihrer Lehrzeit (Freisprechung). Sie war seit dem Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung eine der Voraussetzungen der Zulassung zur Meisterprüfung. Die Gesellen sollten vor allem neue Arbeitspraktiken, fremde Orte, Regionen und Länder kennenlernen sowie Lebenserfahrung sammeln. [/quote_box_left]Stolz ist Albert heute auch, weil er zusammen mit neun weiteren Gesellen die Geschwisterschaft „Vereinigte Löwenbrüder und -schwestern Europas“ gegründet hat. Hier sollen sich junge Leute vernetzen, die eben nicht aus dem Baugewerbe, sondern aus dem Lebensmittelhandwerk kommen. „Bäcker, Bierbrauer, Konditoren, Landwirte, Molker, Winzer, Fleischer und Müller sind es bislang“, zählt Albert auf. Denn als er auf die Walz ging, gab es keine Organisation, der er sich hätte anschließen können. „Ich war als sogenannter Freireisender unterwegs.“ Die Walz sei ein Lebensprinzip, sagt Albert. „Man erlebt so viele Dinge, die Außenstehende gar nicht verstehen können.“

Viele Freunde hat Albert während seiner Zeit „auf der Straße“ in jedem Fall gefunden. Mehr als ein Dutzend von ihnen sind am Samstag dabei gewesen, als er nach Hause kam. Und natürlich waren auch viele Menschen vor Ort, die den erwachsen gewordenen Albert willkommen heißen wollten. „Ich möchte mich bei allen, die da waren, ganz herzlich bedanken“, sagt er: „Ich habe mich sehr über die Unterstützung gefreut.“

Vorheriger ArtikelGrenzenloses Projekt im
Rahmen eines Euregio-Projekts
Nächster ArtikelPlanspiel Börse der Sparkassen
startete in seine 34. Runde