Der Mann am Klavier

KLEVE. „Hab dich vermisst, gestern im Kurhaus“, sagt der Kollege. „Was war? Neue Ausstellung?“ „Nö. Neuer Oberstaatsanwalt.“ „Gab`s was Besonderes?“ „Kann man so sagen. Am Ende der Veranstaltung setzt der sich an den Flügel: Spielt Chopin, spielt ‚Misty‘ und ‚Take Five‘ – mal eben so …“ Okay, denke ich: Den muss man kennenlernen. Besuch bei: Günter Neifer.

Chopin zur Prüfung

Ein sportlicher Kurzvormittsechziger. „Herzlich Willkommen. Kommen Sie rein. Worüber sprechen wir?“ „Über Musik. Welcher Chopin war‘s denn?“ „Nocturne Es-Dur.“ (Opus 9, Nr. 2.) „Das muss man sich erst mal trauen.“ Neifers erste Geschichte läuft vom Stapel. „Wissen Sie, ich habe in Berlin zuerst eine Aufnahmeprüfung an der Hochschule der Künste gemacht. Das war 1978. Ich erinnere mich noch an den Saal, in dem ich vorgespielt habe. Hauptfach Klavier. Damals habe ich den Chopin gespielt.“ „Und?“ „Bestanden. Aber gleichwohl wurde mit der Rat gegeben, vielleicht doch etwas anderes zu machen.“ Das Andere: Lehramtsstudium: Englisch, Sport. Ein Semester. Danach: Einbiegen auf die Zielgerade: Jura. Eine Dynastie? „Nein. Mein Vater hatte in Oberhausen eine alteingesessene Gaststätte.“ Jung Neifer durfte auch in jungen Jahren schon mal an den Zapfhahn.

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Bechstein

Ganz schön viel Leben, denkt man und hat den Rest noch gar nicht gehört. Neifer erzählt von seinem Bechstein Flügel: 1888. „Toller Flügel.“ Neifer hat ihn schon in Berlin und nimmt ihn später mit nach Oberhausen: Rücksturz in die Heimat. Zwischendurch hat Neifer einen Besuch bei Bechstein gemacht. Vielleicht ein neuer Flügel? Er bleibt beim Alten. Das bezieht sich auf den Flügel. Neifer, denkt man, ist alles andere als ein Gestriger.
Ganz nebenbei erfährt man auch, dass er in Berlin mit Freunden zusammen ein Theater betrieben hat: das Schauplatztheater in einem alten Edeka-Markt. „Zehn Jahre haben wir das gemacht“, erzählt Neifer. Er – der Pianist. „Das waren damals Schauspieler, Maler, Fotografen, Pantomimen.“ Immer wieder samstags: Showtime. „Da konnten sich dann Künstler aus ganz Berlin anmelden. Vor der Vorstellung konnte man auf einer Tafel die Reihenfolge lesen. Wir hatten auch die ‚Misfits‘ aus Oberhausen da, als die noch nicht bekannt waren.“ Dass Neifer zur Amtseinführung Klavier spielt: kein Zufall. Natürlich nicht. „Mir ging es auch darum, dass ich zeige: Ich bin nicht nur der Staatsanwalt.“ Merke: Musik macht menschlich.

Einmal pro Woche zum Unterricht

Einmal die Woche fährt Neifer nach Mühlheim: zum Klavierunterricht. Es geht dann auch um Jazz. Man rückt sein Staungesicht wieder zurecht. Da gibt es also einen mit einem Leben abseits der Justiz. Das Umschalten: nicht immer leicht. „Manchmal, wenn ich im Bekanntenkreis zu irgendeinem Anlass ein paar Worte sage, höre ich anschließend schon mal: ‚Danke für dein Plädoyer.‘“

Eigentlich …

„1988 habe ich als Staatsanwalt angefangen. Das sagte jedenfalls der Minister bei meiner Amtseinführung. Studiert habe ich von 1980 bis 1984. Eigentlich wollte ich Rechtsanwalt werden, aber dann bekam ich nach meinem Examen den Anruf eines Prüfers. Der hatte mich in meiner mündlichen Prüfung im zweiten Staatsexamen erlebt. Der Mann war Vizepräsident des Oberlandesgerichts in Berlin und zuständig für die Einstellung von Richtern und Staatsanwälten. Er rief mich am Tag nach dem Examen an und fragte: ‚Wollen Sie nicht in den Justizdienst?‘ Ich habe dann gedacht: Dann machst du das und ich habe nie bereut, diesen Beruf ergriffen zu haben. Und wenn einer sagt ‚Jura ist trocken‘, dann kann ich das nicht bestätigen. Die Justiz bietet ja extrem weite Möglichkeiten, sich zu entwickeln und interessante Sachen zu machen. Ich hatte das Glück, mehrfach im internationalen Bereich tätig sein zu können. “

‘La Belle’

Als junger Staatsanwalt war Neifer in die Ermittlungen zum Attentat auf die Berliner Diskothek ‚La Belle‘ am 5. April 1986 eingebunden. Damals wurden drei Menschen durch einen Sprengsatz getötet, 104 weitere Besucher wurden teils schwer verletzt. Auch auf den Philippinen war Neifer im Einsatz. Sein Fazit: „Ich bin stolz auf unser deutsches Justizsystem.“

Der “Kollege” steht in Neifers Büro. NN-Foto: Rüdiger Dehnen

“Wir sind Dienstleister

Wenn Neifer über die Justiz spricht, fällt nicht selten eine Signature-Vokabel: „Gleichwohl.“ Außerhalb juristischer Kreise ist ein solches Wort kaum in Gebrauch. „Es ist ja wichtig, dass wir als Justiz klar sind“, sagt er und meint damit auch die Kommunikation nach außen. „Ich war ja auch mal Pressesprecher und habe immer Wert darauf gelegt, die Dinge verständlich darzustellen“, sagt er. Und er sagt auch: „Mir ist es wichtig, dass wir als Behörde immer auch Dienstleister sind.“ Es gehe, sagt Neifer, darum, dass Bürger sich gut aufgehoben fühlen. „Wir sind eine hoheitliche Behörde, die auch eingreift. Wir klagen an – wir stellen ein, aber: Ich begreife mich und auch alle Mitarbeiter als Dienstleister gegenüber den Bürgern. Es gibt nichts Schlimmeres als wenn der ‚brave Bürger‘ in seinem Leben einmal mit der Justiz und Polizei zu tun hat und in dieser Situation enttäuscht wird.“ Im Offizialton klingt das dann so: „Sowohl ich als auch meine Mitarbeiter begreifen sich nicht nur als Eingriffsbehörde mit hoheitlichen Befugnissen, sondern wir verstehen uns auch als Dienstleister gegenüber dem Bürger, der zu Recht einen positiven Eindruck von meiner Behörde erwarten darf. Es geht auch darum, dass in einem Verfahren sowohl Täter als auch Opfer ernst genommen werden.“

Ein Glücksfall für Kleve

Das Stichwort Objektivität bei den Ermittlungen. Es sei kein Armutszeugnis, wenn ein Staatsanwalt am Ende eines Prozesses einen Freispruch beantragt, ist Neifer sicher. Ganz im Gegenteil: Gerade hier zeige sich in besonderem Maße das Großartige unseres Rechtssystems. „Dazu kommen Menschen wie Cornelia Zander vom ambulanten sozuialen Dienst am Landgericht, die sich bei Prozessen und im Vorfeld sowohl um Täter als auch Opfer kümmert. Menschen wie Frau Zander müsste man clonen können. Dass wir sie haben, ist ein Glücksfall für Kleve.“
Hat man als Behördenleiter überhaupt noch die Chance, bei Gericht aufzutreten? Neifer deutet auf einen Schrank: „Die Robe hängt da drin.“ Tatsächlich ist es aber schon „ein paar Tage her“, dass Neifer als Staatsanwalt bei Gericht war. „tatsächlich habe ich vorgestern noch überlegt, weil wir knapp waren mit Staatsanwälten: Da gehst du jetzt selber hin.“
Hat die Justiz einen guten Ruf bei den Bürgern? „Natürlich gibt es immer Luft nach oben, aber prinzipiell würde ich durchaus mit Ja antworten. Die Justiz ist von hoher Bedeutung für den demokratischen Rechtsstaat. Ohne Staatsanwaltschaft ist Gerechtigkeit schwer durchsetzbar.“

Das Nachwuchsproblem

Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus? „Das ist“, sagt Neifer, „generell ein Problem für die Justiz. Das gilt in gleichem Maße für die Richterschaft und die Staatsanwaltschaft. Bei den wirklich guten Juristen stehen wir in direkter Konkurrenz zu den Großkanzleien, die bekanntlich Einstiegsgehälter zahlen, die die Justiz nicht zahlen kann. Aber: Wir sind attraktiv, insbesondere für weibliche Bewerber, weil hier Beruf und Familie sehr gut vereinbar sind. Sie können ohne Probleme Erziehungsurlaub nehmen und nahtlos wieder einsteigen. Das lässt sich alles gut planen. In der Folge steigen wesentlich mehr weibliche Bewerber bei uns ein.“

Beim Joggen

Wie wichtig ist es, Entscheidungen treffen zu können. „Sehr wichtig.“ Für Entscheidung braucht man das, was manche Bauchgefühl nennen. Dazu gehört immer auch Erfahrung. Natürlich kann man auch falsch liegen, aber es gibt Momente, in denen man sich entscheiden muss. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich richtig entscheidet, steigt mit dem Maß an Erfahrung und dem Vertrauen in das eigene Gefühl. Ich fühle mich da relativ wohl. Was ich auch gelernt habe: Manche Entscheidungen brauchen Zeit. Da kann es auch passieren, dass ich Dinge im Kopf mit nach Hause nehme. Mir kommen oft beim Joggen Ideen. Wenn ich loslaufe, habe ich mir das gar nicht vorgenommen.“ Der Gegenpol: die Musik „Da kann ich komplett abschalten und den Stress abbauen. Und wenn Sie sich bei einer Party ans Klavier setzen und spielen, sind Sie schnell jedermanns Freund.“
Nach einer Gesprächsdreiviertelstunde das Gefühl: Da sitzt einer, der nicht nur von der Juristerei etwas versteht. Man geht mit einem guten Gefühl. Schade eigentlich, dass man den Chopin, „Misty“ und „Take five“ verpasst hat.

 

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