Arbeitsquarantäne oder: Wenn nichts mehr geht

KREIS KLEVE. Gerd Y. ist Pfleger.* Er arbeitet also in einem der sogenannten systemrelevanten Berufe. In der vergangenen Woche hatte er einen Risiko-Kontakt. Der Anfang einer irgendwie absurden Geschichte.

Personalmangel

Es ist Dienstag, der 3. November. Bei der Arbeit hat Gerd Kontakt zu einem Arzt, dessen Vater, so stellt sich erst später heraus, positiv auf Covid getestet wurde. Gerd wird am Tag darauf von seinem Arbeitgeber informiert. Die Botschaft: „Wir kümmern uns.“ Zwei Tage nach der Risikobegegnung, am 5. November, informiert der Arbeitgeber das Kreisgesundheitsamt und wiederum einen Tag später, am 6. November, ordnet das Gesundheitsamt für Gerd eine Quarantäne an. So weit – so gut. Es gibt ein ‚aber‘: Gerds Arbeitgeber kämpft mit akutem Personalmangel. Das Ergebnis: Für Gerd gilt ein geänderter Status: Er befindet sich in Arbeitsquarantäne.
„Eine Arbeitsquarantäne ist eine mögliche Maßnahme im Kontext der Bekämpfung einer Epidemie oder Pandemie. Diese Maßnahme wird insbesondere im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie in Deutschland auf der Grundlage von § 28 des Infektionsschutzgesetzes angewendet.
Über Personen, die nicht eigens zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland eingereist sind und die sich sonst in eine häusliche Quarantäne begeben müssten, wird eine Arbeitsquarantäne in der Regel durch Allgemeinverfügungen des zuständigen (Land-)Kreises beziehungsweise der zuständigen kreisfreien Stadt verhängt. Ausnahmsweise wird in diesem Fall der Bereich, in dem sie sich legal aufhalten dürfen, auf bestimmte Bereiche ihrer Arbeitsstätte und auf den Weg von ihrer Wohnstätte dorthin sowie von der Arbeitsstätte zur Wohnstätte ausgedehnt.“

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Tanken muss jemand anders

Gerd fragt nach, was das zu bedeuten habe. Zunächst einmal gelten für ihn die normalen Quarantänebestimmungen: Er darf das Haus nicht verlassen, sich nicht mit anderen treffen, nicht zum Einkaufen gehen. Arbeitsquarantäne bedeutet nun für Gerd – er wohnt circa 30 Kilometer von seinem Arbeitsort entfernt –, dass er sich morgens ins Auto setzen und dann ohne Zwischenstopp zur Arbeit fahren muss. Auf seine Frage, was zu tun sei, wenn er kein Benzin mehr habe, erklärt man ihm, dass er in diesem Fall jemanden finden müsse, der das Auto für ihn betankt. Der Arbeitgeber bietet Gerd einen Test an. Solange er keine Symptome zeigt, soll er zur Arbeit erscheinen.

RKI

Aus dem „Merkblatt für Betroffene (Kontaktpersonen)“ des Robert-Koch-Instituts (RKI):
„Die Quarantäne dient Ihrem Schutz und dem Schutz von uns allen vor Ansteckung mit dem neuartigen Coronavirus. Sie ist eine zeitlich befristete Absonderung von ansteckungsverdächtigen Personen oder von Personen, die möglicherweise das Virus ausscheiden. Die Quarantäne soll die Verbreitung der Erkrankung verhindern. […] Es ist sehr wichtig, dass Sie die Quarantäne- und die Hygieneregeln genau einhalten – auch wenn Sie keine Beschwerden haben sollten. Sie schützen damit sich und andere. […] Bitte beachten Sie: Verstöße gegen eine angeordnete Quarantäne können mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe geahndet werden.“

Kein Ergebnis der momentanen Situation

Fragt man Gerd nach seiner Meinung, fällt die Antwort deutlich aus: „Ich finde das relativ verantwortungslos. Zu verstehen ist das ohnehin nicht. Natürlich – sobald sich Symptome zeigen, soll ich mich zum Hausarzt begeben und krank schreiben lassen“, sagt er. „Aber was sind Symptome? Kann sein, dass ich morgens leicht verschnupft wach werde. Bedeutet das: Ich muss jetzt eine Krankschreibung beantragen? Und was, wenn ich das nicht tue, es sich aber um Covid-Symptome gehandelt hat und ich schon Kollegen anstecke?“
Gerd sieht die Problematik nicht als das Ergebnis einer momentanen Situation: „Was die Arbeitsquarantäne aufgrund von Personalmangel in der Pflege angeht, bin ich der Ansicht: Grund ist nicht, dass es so viele infizierte Pflegekräfte gibt – all das ist die logische Konsequenz aus jahrelanger Sparpolitik. Es geht um einen Personalmangel mit Ansage: Wir waren lange von Corona bereits am Limit. Reserven gibt es nicht, denn ‚Pflegepersonal sitzt ja nur im Dienstzimmer und trinkt Kaffee‘. Applaus hilft da auch nicht weiter.“

Angepasst

Das Robert-Koch-Institut hat seine Empfehlungen für COVID-19-Kontaktpersonen unter medizinischem Personal an Situationen mit relevantem Personalmangel angepasst: „Medizinisches Personal muss künftig nach engem ungeschützten Kontakt zu COVID-19-Erkrankten nicht mehr so lange in Quarantäne und darf bei dringendem Bedarf in Klinik oder Praxis arbeiten, solange keine Symptome auftreten.“ (RKI-Präsident Lothar Wieler).
Mit den neuen Empfehlungen „soll die Balance zwischen Praktikabilität und Patienten­schutz gewahrt bleiben“, so Wieler. Er betonte, dass das Vorgehen möglichst mit dem zuständigen Gesundheitsamt abgesprochen werden sollte und ausschließlich bei Personalmangel infrage komme.

Systemrelevante Bereiche

Systemrelevante Bereich sind laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Energie: Strom-, Gas-, Kraftstoffversorgung (inklusive Logistik) (zum Beispiel kommunale Energieversorger). Wasser & Entsorgung: Hoheitliche und privatrechtliche Wasserversorgung, sowie die Müllentsorgung (zum Beispiel Müllwerke, Wasserwerke, Kläranlage). Ernährung und Hygiene: Produktion, Groß- und Einzelhandel (inklusive Zulieferung, Logistik, zum Beispiel Landwirte, Erntehelfer, Verkäufer). Informationstechnik und Telekommunikation: insbesondere Netze entstören und aufrecht erhalten (zum Beispiel Informatiker, Systemelektroniker). Gesundheit: Krankenhäuser, Rettungsdienste, Pflege, niedergelassener Bereich, Medizinproduktehersteller, Arzneimittelhersteller, Apotheken, Labore. Finanz- & Wirtschaftswesen: Kreditversorgung der Unternehmen, Bargeldversorgung, Sozialtransfers. Transport und Verkehr: insbesondere Betrieb für kritische Infrastrukturen, öffentlicher Personen- und Güterverkehr sowie Flug- und Schiffsverkehr. Medien: insbesondere Nachrichten- und Informationswesen sowie Risiko- und Krisenkommunikation. Staatliche Verwaltung (Bund, Land, Kommune): Kernaufgaben der öffentlichen Verwaltung und Justiz (zum Beispiel Polizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz). Schulen, Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Personal, das die notwendige Betreuung in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege, stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Einrichtungen für Menschen mit Behinderung sicherstellt.

Kreis Kleve

Eine Anfrage beim Kreis Kleve zum Thema Arbeitsquarantäne brachte folgende Antwort: „Ihre Anfrage vom 11. November berührt ein sehr komplexes Thema. Im Kern geht es um die Abwägung, wie die Pflege und Betreuung erkrankter und/ oder pflegebedürftiger Menschen sichergestellt werden kann, wenn Einrichtungen von Covid-19-Erkrankungen betroffen sind und sich das Personal in Quarantäne begeben muss. Bei einer Arbeitsquarantäne muss die Quarantäne im privaten Bereich eingehalten werden, darf aber für die Arbeit und die direkten Hin- und Rückfahrten unterbrochen werden. Voraussetzung für eine solche Ausnahme von einer umfassenden Quarantäne ist zunächst immer, dass die Einrichtung dem Gesundheitsamt einen Personalmangel angezeigt hat, dass also die Versorgung der zu pflegenden und/ oder zu behandelnden Menschen ohne diese Ausnahme nicht sichergestellt werden kann. Bei einer Arbeitsquarantäne müssen außerdem besondere Auflagen eingehalten werden – zum Beispiel ständiges Tragen einer FFP-2-Maske und Eigenbeobachtung auf das Vorliegen von Krankheitssymptomen. Eine Arbeitsquarantäne kommt grundsätzlich nicht in Betracht, wenn die betroffene medizinische Fachkraft oder Pflegekraft selbst Krankheitssymptome hat. Aufgrund der mit Arbeitsquarantänen einhergehenden erhöhten Risiken mit Blick auf eine Weiterverbreitung von Infektionen mit SARS-CoV-2 dürfen diese nur angewendet werden, wenn alle anderen Maßnahmen zur Sicherstellung einer unverzichtbaren Personalbesetzung ausgeschöpft sind. Weitere Informationen finden Sie im Internetauftritt des Robert-Koch-Instituts.“

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/HCW.html
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Personal_Pflege.html;jsessionid=0853B504428747B34F7C1EE979CD134C.internet062?nn=13490888

Ruth Keuken, Pressesprecherin für den Kreis Kleve: „Die Hürden für eine Maßnahme wie die Arbeitsquarantäne sind sehr, sehr hoch gelegt.“

Am Ende ein Dilemma

Am Ende stellen in Corona-Zeiten viele Entscheidungen die Verantwortlichen vor ein Dilemma, denn wenn kaum Personal vorhanden ist, bliebe (beispielsweise in Krankenhäusern) als Alternative die Schließung von Stationen.
(Dilemma, auch Zwickmühle genannt: bezeichnet eine Situation, die zwei Möglichkeiten der Entscheidung bietet, die beide zu einem unerwünschten Resultat führen.)

*Der Name und die Daten sind geändert.

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