Zwei Welten

KLEVE/GELDERN. Herr A. hat – vielleicht sagen wir es so – eine kurze Zündschnur. Wenn die abgebrannt ist, schlägt er zu: Manchmal mit der Faust oder der flachen Hand, ein andermal sind es Gegenstände: Weichholzlatten, Käsebretter – was eben da ist. Herr A. lebte bis zu seiner Verhaftung in einer Notunterkunft in Geldern.

Innere Notwehr

Eine ganze Reihe von Körperverletzungen steht auf dem Programm der Verhandlung und schnell stellt sich heraus: A. hat in den meisten Fällen aus einer Art inneren Notwehr gehandelt und wenn er erzählt, was im widerfahren ist, mag man das Getane zwar nicht tolerieren, aber es ließe sich erklären.
So viel steht – aus A.s Sicht – fest: Die Welt hat es auf ihn abgesehen. Er wurde gefoltert: Mit Musik, Räuspern, Schlafentzug, um mit dem Harmlosesten zu beginnen. Man hat A.s Leben zerstört: Sein Ruf wurde geschädigt, seine Karriere zerstört. Da gab es Menschen, die eigens einen Doppelgänger A.s „installiert“ haben. Der soll dann beispielsweise pädophile Handlungen begangen haben, die man anschließend A. vorwarf. Menschen haben daraufhin an A. Selbstjustiz verübt. Selbst A.s Eltern gehören zu den Gegnern: Immer wissen sie alles besser. Glauben ihm nicht. Er wird ständig und von allen provoziert. Andauernd. Als er – längst wohnungslos – bei seinen Eltern lebt, gibt es häufig Streit und eines Tages findet A. in dem Wasser, das er soeben trinken will, eine weiße Substanz. Die Mutter sagt, dass müsse Kalk sein, der von der Decke gerieselt ist. Für A. ist klar: Es muss etwas anderes sein. Dass er seinen Vater mit einem Messer zwar nicht attackiert, aber doch damit auf ihn gewartet hat, ist kein Angriff – es war Notwehr.

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Zerstört

A. ist kein Dummkopf. Nach dem Fachabitur hat er eine Ausbildung bei der Telekom gemacht: Informatiker. Dann war er jahrelang beim Kommunalen Rechenzentrum angestellt, bis seine Laufbahn durch Rufmord zerstört wurde. A. versuchte es mit Musik. „Ich habe ein paar EP.s aufgenommen“, erzählt er und muss dem Richter kurz erklären, was das ist. A. ist nicht nur verleumdet und gefoltert worden. Man hat sein geistiges Eigentum geraubt. Da wäre der Titel eines Stückes: e=mc-Quadrat. Sein Titel. Von ihm ausgedacht. Und den findet er – ausgerechnet an seinem Geburtstag – im Netz wieder. Gestohlen von einem Rapper: Prinz Pi. Aus A.s e=mc- Quadrat ist jetzt pp=mc -Quadrat geworden. Da muss doch klar sein, dass es um Ideendiebstahl geht – zumal es an A.s Geburtstag geschieht. Das Leben: Ein Anhäufung von Provokationen – alles gegen ihn, A., gerichtet.

Fünf Mal

Ja, A. ist mehrmals in psychiatrischen Kliniken gewesen: fünf Mal imsgesamt. Einmal hat er sich selbst eingewiesen: Depressionen, Suizidgefährdung. Jetzt haben sie ihm eine Schizophrenie daraus gemacht. Das kann nicht sein. Sie haben ihm Medikamente verschrieben: gegen die Schizophrenie. Zehn Monate hat er die genommen. Dann nicht mehr: Er ist ja nicht schizophren. Niemand erklärt ihm die Dinge. Alle reden über ihn – niemand mit ihm. Dass da Menschen einen Doppelgänger konstruieren, nur um ihm, A., zu schaden: Das zeigt es doch. Sie dringen in seine Privatsphäre ein. Und ja – für den Vorsitzenden ist das natürlich schwer nachzuvollziehen. Er steckt ja nicht in A.s Haut. „Sie stecken ja nicht in meiner Haut.“

Völlig überraschend

Dann die Zeugen: Alle sprechen von Angriffen, die sie nicht vorhersehen konnten. Es hat vorher nichts gegeben. Und plötzlich werden sie geschlagen. Der Satz des Tages: „Da war vorher nie etwas.“ Längst hat man das Gefühl, in zwei Welten zu gastieren. Da ist A.s Welt: eine Welt der Provokationen, der Folter, des geistigen Diebstahls. Und dann ist da die Welt von Menschen, die von A. attackiert wurden und irgendwie nichts über die Gründe wissen. Eines der Opfer soll A. vorgeworfen haben, Beziehungen zu einem jungen Mädchen gehabt zu haben. „Das höre ich heute zum ersten Mal“, sagt er und wäre er allein – vielleicht würde man zweifeln. Aber alle Geschädigten finden keinen Reim auf A.s Verhalten. Der sitzt da, hört sich alles an, zeigt keine Reaktion.

Schwere Körperverletzung

A. hat keinerlei Vorstrafen, hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Jetzt aber lautet die Anklage: schwere Körperverletzung. A. streitet nichts ab, aber er hat für alles eine Erklärung. Folter durch Schlafentzug zum Beispiel. Er liegt in seinem Bett in der Notunterkunft. Zwei Räume weiter – in der Küche – sitzt einer und räuspert sich: immer wieder. A. macht es vor – räuspert sich. A. geht in die Küche, „und dann habe ich dem eine gegeben“, sagt er in einem Ton, der die unausgesprochene Frage andeutet: „Das hätten Sie doch auch getan, oder?“ Immer, wenn er, A., Ruhe brauchte, hätten die anderen Lärm gemacht, sagt er. Schlafentzug sei gesundheitsgefährdend.

Gebetsmühle

Die Sache zieht sich. Zeugen, deren Vernehmung teils nur vier Minuten dauert. Manche der Taten ereigneten sich 2021. Woran soll man sich erinnern. Einen Arzt, der als Zeuge geladen ist, mag A. nicht von der Schweigepflicht entbinden. Zwei Minuten. Ende. „Sie können Ihre Auslagen geltend machen. Gehen Sie dazu zu Raum XY, aber da ist heute niemand.“ Diesen Satz hat der Vorsitzende in die Gebetsmühle geworfen. Nach einer 45-minütigen Mittagspause ist der für 13 Uhr erschienene Zeuge (einer der Geschlagenen) nicht erschienen. Der Vorsitzende fragt nach, ob man auf den Zeugen verzichten könne. Die Staatsanwaltschaft bejaht. A. sieht es anders. Der Mann soll gehört werden. „Wir machen dann bis 14 Uhr Pause“, sagt der Vorsitzende.
Man glaubt, genug gehört zu haben. Anruf beim Pressesprecher: Bitte, wenn es so weit ist, Bescheid sagen, wie die Sache ausgegangen ist. Danke vielmals. Sollten Sie bei A. Schizophrenie feststellen, wird er zurück in die Klinik müssen und vielleicht ist es besser, man ist dann nicht dabei.
Paragraph 63, Strafgesetzbuch: „Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine […] erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.“
Am Endes des Prozesses wird A. wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen. Das klingt weniger gut als es (für ihn) ist, denn das Gericht verfügt nach Paragraph 63 A.s unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Der Strafrahmen für die angeklagten schweren Körperverletzungen hätte irgendwo zwischen einem Jahr und zehn Jahren gelegen. A.s Unterbringung könnte theoretisch lebenslang andauern. Einmal pro Jahr allerdings wird sein Fall evaluiert werden. Sind die Ärzte überzeugt, dass von A. keine Gefahr mehr ausgeht (für ihn selbst und die Allgemeinheit), wird er entlassen werden.
Gesetzliche Regelungen: „Die Unterbringung nach § 63 StGB ist unbefristet möglich und richtet sich nach den Behandlungsfortschritten des Patienten. Erst wenn nach sorgfältiger Beurteilung und bestem ärztlich-therapeutischen Wissen keine Gefährdung von der betreffenden Person mehr ausgeht, kann der Freiheitsentzug gelockert, beziehungsweise eine Entlassung angeordnet werden. Über die Unterbringung im Maßregelvollzug entscheiden Gerichte. Das gleiche gilt die eine Entlassung. Auch sie kann nur von einem Richter angeordnet werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Person nicht wieder straffällig wird. Vor der Entscheidung über die Entlassung werden in der Regel externe Sachverständige angehört.“

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