Haldern Pop 2023: Am Himmel die Wolken

Niemand hat daran gedacht, eine Arche zu bauen. Die App fürs gute Wetter: Noch nicht erfunden. Abgesoffen. Man möchte heulen. Aber das tun schon andere: über den Wolken.

Abgesoffen

Im „Eis-Amt“ einen Kaffee trinken. Der Regen prasselt aufs Vordach. Es ist so laut, dass man zum Bestellen den Mann hinter dem Tresen anbrüllen muss. Während draußen die Welt den Untergang probt, liegen auf der anderen Seite der Erdkugel Frauen weinend auf dem Rasen: WM-Aus für Deutschland. Ein schwarzer Tag irgendwie. Geburtstage wünscht man sich anders. Man wollte über Musik schreiben – über die Extase des schönen Rausches der Klänge … stattdessen wird alles weggespült. Man sitzt im Auto, wartet auf das Regenende: Es will nicht kommen. Das Wasser will keine Ruhe geben.

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Foto: Lena Frost

Melancholie

Im Dorf lässt es sich aushalten. Draußen, auf dem Festivalgelände, tut sich der Boden auf: Schlamm, wohin man sieht. Man denkt an ein Gespräch mit Festivalchef Stefan Reichmann. „Die Zukunft ist klein“, hatte er gesagt und man denkt: Die Gegenwart ist abgereist – irgendwohin, wo es schön ist. Melancholie hält Einzug. Es fehlt an Kraft für den Optimismus. Irgendwie ist man in ein Trauerspiel geraten … Sich vorarbeiten zum Festival-Gelände. „Lass dein Auto im Dorf“, sagt einer. „Du kommst sonst nie an.“ “Wacken light”, scherzt ein anderer … Am Himmel: die Wolken.

Der Regen lächelt

20 Minuten Fußmarsch – vorbei an Nummernschildern aus der Republik: Westostnordsüd. Die Schlange: Ziemlich. Die Stimmung: Irgendwie trotzdem entspannt. Irgendwie trotzdem heiter. Der Regen lächelt. Auf dem Weg zum Festivalgelände: Zwei weitere Weltuntergänge. Aber: Niemand lässt sich die Stimmung verregnen. Irgendwie schön. Irgendwie wärmend. Vom Festival-Gelände zurück ins Dorf. Die Wolkendecke reißt auf.

All the way from Mississippi

In der Kirche: „The Staple Singers“. Die Anmoderation: „All the way from Mississippi.“ Und als die Band ihr Soul-Blues-Predigt vom Altarraum Richtung Publikum schickt, als hunderte Arme im Rhythmus mitzuschwingen beginnen, weiß man, warum man gekommen ist. Scheiß aufs Wetter. Eigentlich müssten die Staple Singers auf der Hauptbühne spielen. Sie würden es rocken. Aber so was von. Amerikanische Kirchen haben eine andere Akustik: Kein Hall. Das Schlagzeug verirrt sich nicht zwischen gotischen Spitzbögen. Stehst du hinten, wird der Klang suppig.
Später auf der Hauptbühne: der Rain Man: Mario Batkovic. Als er zuletzt dort spielte, hatte er Wolkenbrüche im Gepäck. Jetzt bleibt es trocken. Batkovic vertreibt die Wolken. Alle hier tun sie das. Vielleicht, denkt man, gibt es sie doch: die Gutwetterapp: Sie steckt in den Köpfen. Ist unkaputtbar. Legt sich auf alle: die Festivalgäste, die Ordner, die Security. Das Wetter im Herzen: heiter bis sonnig. All the way from Mississippi …

Der zweite Tag: Seelenreinigung

Der zweite Tag beginnt mit einer Meldung des Veranstalters: Die Leute auf dem Campground sollen, wenn sie zum Einkaufen ins Dorf müssen, die Autos stehen lassen. Die Wiesen brauchen Erholung.
Das erste Konzert des zweiten Tages: „Cantus Domus“ gehört irgendwie zum Mobiliar des Haldern Pop. Zur Beschreibung dessen, was der Chor aus Berlin ist, reicht ein Adjektiv: famos. Freitags um 11 Uhr ist Cantus-Domus-Zeit: Man tritt an, um die Seele grundreinigen zu lassen. Als die Standing Ovations vorbei sind, spendiert auch der Himmel eine Reinigung: Es regnet. Mezzoforte moderato.
Die Wiesen werden sich nicht erholen. „Das Schlimmste ist der Gestank des Schlamms. Man wünscht sich postcoronale Geruchstaubheit“, schreibt eine Bekannte. Da ist was dran. Vielleicht mit Nasenklammer aufs Festivalgelände.
Vor dem „EisAmt“ müssen die Sonnenschirme vor Regen schützen. Nach zehn Minuten geben die Tropfen Ruhe.

EisAmt und Kommunalreform

„Warum heißt das hier eigentlich EisAmt“, fragt jemand und ein Einheimischer erklärt: „Das Gebäude neben dem EisAmt war früher das Rathaus. Dann kam in den 70-ern die Kommunalreform. Haldern wurde zu einem Teil von Rees. Das Rathaus war nicht mehr nötig.“ Das Festival kehrt die Sache um. Fragt man irgendjemanden nach Rees, gibt es fragende Blicke. Haldern – das ist die Signature-Vokabel.

Der Hintereingang zum Spiegelzelt: Irgendwie schlammversperrt. Kein Durchwollen ohne Stiefel. Und tatsächlich: Es riecht irgendwie gar nicht gut. Das Wetter: gnädig. Zwischendurch ein bisschen Niesel. Was fastschwarz am Himmel steht, zieht vorbei. Die Freude am Gelände: eingeschränkt. Backstage: Entspanntes Sitzen. Von der Hauptbühne wehen Soundcheckfahnen hinüber. Ein Vorhören der besonderen Art.

Der dritte Tag

Es ist der letzte Tag beim Haldern Pop. Sonne am Himmel. Melancholie im Kopf. Das Programm für den Tag: Loney Dear – auf jeden Fall. Alles andere: Zugabe. Einfach mal hörensehendenken, was kommt.
Zum 40. Geburtstag gibt es einen Abschied zu verzeichnen. Der Mann, der mit dem HPF gewachsen ist, verabschiedet sich. Media Spectrum ist in Haldern mit einem Namen verbunden: Dirk Schmidt-Enzmann. In den vergangenen 40 Jahren sind er und das Festival zu Institutionen geworden. Für Schmidt-Enzmann ist die Nummer 40 das Ultimo. Ein fast lautloser Abschied hinter den Kulissen.

Emil oder: Kafka im Kopf

Samstag, 13.15 Uhr. Loney Dear spielt. Die Schlange vor der Kirche: gigantisch. Manche werden nicht hereingelassen. Kein Platz mehr. Loney Dear heißt eigentlich Emil Svanängen und ist einer, dem man, wenn er am Klavier sitzt, beim Denken zuhören kann. Einzelne Töne schleichen sich an: vorsichig. Behutsam: Schönheit, die kaum zu ertragen ist.

Nichts für starke Nerven

Kafka im Kopf: „Im Kino gewesen – geweint.“ Man setzt die Sonnenbrille auf.
Emil erzeugt – 1.000 Menschen hören zu – eine Intimität, die fast schmerzlich ist in ihrer Eindringlichkeit. Es ist die Sorte Musik, die man in den letzten Augenblicken hören möchte, damit man in Frieden abreisen kann. Es ist eine Musik, die Wunden schließt, wenn man sie nur tief einatmet. Da komponiert einer unter Aufsicht – spannt die Seele auf. Romantik im Raum. Man denkt an einen Satz von Leopold Kohr: „Kultur atmet aus Kathedralen und luftigen Türmchen, deren einzige Funktion darin besteht, schön zu sein.“ Dieser Emil Svanängen macht auch Hütten zu heiligen Orten. Er braucht kein Motiv. Er spinnt sein Netz aus Tönen. Da sitzt man – von Schönheit geflutet. Nichts für starke Nerven. Wenn jetzt die Welt unterginge – es würde nichts fehlen. Irgendwie ist man voll Dankbarkeit. Plötzlich wird die Kirche zur Kirche. Da hält einer Gottesdienst in Tönen. Da verschwindet ein großer Geist in seinen Klängen – fliegt hoch, segelt davon: jeder Ton eine Taube. Man könnte nach diesem Konzert nach Hause fahren und ein Jahr von der Erinnerung ans Gehörte leben. Man flüchtet zum Schreiben ins „EisAmt“. Aus dem Lautsprecher: Tapetenmusik: Nichtigkeiten unter dem Schlagzeugdiktat. Gerade noch unerträgliche Schönheit – jetzt das unaushaltbar Banale. Die Musik ist zu einem Etwas verkommen, das die Stille tapezieren soll. Musik, die daran stirbt, dass man ihr nicht zuhören muss. Sie ist zu einem Hintergrund verkommen und erstickt an ihrer Bedeutungslosigkeit. Man würde so gern zurückkriechen in die Kirche – zu Emil. Man möchte sich seine Klänge über den Kopf ziehen und die Augen schließen.

Susan O’Neill

Danach. Marie und Oskar.

Foto: Lucas Hans

Vielleicht gleich das Ticket fürs nächste Jahr kaufen? Die Preise sind günstig. Marie und Oskar: Beide studieren noch, beide sind Mittzwanziger. Die Sache mit dem Gestern-Ticket finden sie gut. „Eine tolle Idee.“ Trotzdem überlegen sie. Nur nichts überstürzen. Wie war euer HPF? „Wir haben ein paar echt gute Konzerte erlebt.“ Gibt es ein Aber? „Ja. Doch. Als wir – vor mehr als 10 Jahren – zu Fans geworden sind, gab es mehr Headliner. Das hat nachgelassen. Das ist irgendwie schade, denn der Grund, ein Festival zu besuchen, hat auch etwas mit der Vorfreude zu tun. Klar: Es ist toll, neue Bands kennen zu lernen, aber es kommt auf die Mischung an.“

Ü30

Noch etwas? „Ja: es wäre schön, wenn sich das Publikum verjüngen würde. Wir haben den Eindruck, die allermeisten hier sind Ü30.“ Maire und Oskar sind Fans und werden es bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie im nächsten Jahr wiederkommen, ist hoch. „Es wäre“, sagen sie beim Gehen, „auch toll, wenn es die Marktplatzbühne wieder geben würde. Das war echt cool. Das hat uns gefehlt in diesem Jahr.“ Die Highlights? „Da gab es einiges. Loney Dear in der Kirche, Susan O’Neill im Spiegelzelt, Mario Batkovic und Tom Odell auf der Main Stage. Und dann noch Glen Hansard. Das war ziemlich cool. Da hat auch ein Trompeter aus dem Dorf mitgespielt. Genau: Die Ansagen auf der Mainstage wurden auch von Leuten aus dem Dorf gemacht. Das hat uns gefallen.“ Und was waren die Entdeckungen? „Oskar hat sich zwei Platten gekauft: Eine von „Brockhoff und eine vom Susan O’Neill. Courting hat uns auch sehr gut gefallen.“

Geschichte werden

Letzte Fahrt zum Festivalgelände. Die Abreise hat begonnen. Goldene Regel beim Fahren auf schlammigem Gelände: Nur nicht stehen bleiben. Eine Karawane beim Abflug. Im Gepäck: Erinnerungen an ein Jubiläum, an Töne, an Regen, an Begegnungen. 40 Jahre Haldern Pop. Man wüsste gern, was in 50 Jahren in Chroniken steht. Man wüsste gern, wie die Einträge in die Geschichtsbücher wohl aussehen. Man wüsste gern, wie es weitergeht. Geschichte – das sind Geschichten: Es sind die Geschichten von Menschen. Man sitzt wieder im EisAmt: Der finale Espresso. Am Himmel draußen bringen sich dunkle Wolken in Stellung.

Latest News

Im Internet schreibt der Veranstalter: “Wir hoffen, ihr seid alle gut nach Hause gekommen oder auf dem Weg dahin! Solange der Vorrat reicht, könnt ihr noch ein limitiertes Early-Bird-Ticket für 2024 bestellen. Bis nächstes Jahr. Danke, dass ihr mit uns da wart. Euer Haldern-Pop-Team.

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