GELDERN. Das Leben geht weiter. Ein inspirierendes Beispiel dafür und was trotz Krankheit alles möglich ist, gibt Andreas Bohm aus Geldern. Unterkriegen lässt er sich weder von der Multiplen Sklerose (MS) – einer chronischen Entzündung des zentralen Nervensystems – noch von der Trigeminusneuralgie (TN). Gemeinsam mit der Hertie-Stiftung möchte er Menschen für das Thema MS sensibilisieren und Vorurteile gegenüber Erkrankten abbauen. Mit zwei weiteren wählte die Stiftung Bohm für ein Projekt aus, um sie und ihre Leben in einem kurzen Video vorzustellen.

Mit den beiden Störfaktoren lebt Andreas Bohm seit 20 Jahren und dabei am längsten mit der TN, die starke Schmerzen im Gesicht und im Kiefer verursacht und oftmals mit MS auftritt. Der plötzliche Schmerz dauert meist zehn bis 20 Sekunden an, ehe er wieder verschwindet. Eine zwölf oder 13 auf einer Schmerzskala bis zehn, wie Bohm erklärt. „Es ist möglich, dass ich zwei Tage nichts essen und trinken kann, weil jede Bewegung ein Auslöser sein kann“, sagt er. Zwar gibt es Medikamente, „aber die legen die Nerven so lahm, dass ich nicht mehr laufen kann. Ich habe entweder keine Schmerzen und kann dafür nicht laufen, oder ich kann laufen und habe Schmerzen.“ Für besondere Termine muss er für ein gutes Mittelmaß mit Medikamenten jonglieren.

Plötzlich MS

2007 begann Bohm, sich schlapp zu fühlen, haftete es aber seinem Alter an. Jahre später bekam er jedoch Gehörprobleme, woraufhin ein befreundeter HNO-Arzt ihm 2015 die Diagnose stellte: PPMS, die seltenste Form der MS.

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Allgemein ist das Erscheinungsbild der MS äußerst vielseitig, generell muss das Immunsystem aber gesenkt werden, da es sonst den Körper wie einen Feind bekämpft. Die PPMS entwickelt sich nicht wie andere Formen in Schüben, sondern stetig und unauffälliger. Medikamente gibt es nicht. Für Bohm bedeutet es unter anderem Gleichgewichtsstörungen und damit Probleme beim Laufen, weshalb er manchmal auf Gehstock, Rollator oder Rollstuhl angewiesen ist. Er hat aber auch Schwierigkeiten mit hohen Temperaturen und dabei, Neues zu lernen.

Ohne Humor geht es in so einer Situation gar nicht, betont Bohm. „Es ist schlecht, wenn man nur noch in einer Ecke vor sich hin jammert.“ Mit dieser Einstellung ist er nicht alleine. In einer MS-Gruppe auf Facebook ist er mit seiner lebensfrohen Art gut aufgehoben: „Wir sind eine sehr lustige Gruppe, die ihre Krankheit und Defizite mit Spaß nimmt.“

Andreas Bohm
Seine Kunst lässt sich Bohm nicht nehmen. NN-Foto: Thomas Langer

Andreas Bohm – der unbeugsame Künstler

Bohm ist Künstler mit Leib und Seele. Mehr als 35 Jahre beschäftigt er sich schon mit Airbrush und verdiente mit Auftragsarbeiten früher sein Geld, egal ob er Motorräder, PKW oder LKW verschönerte. Mittlerweile bezieht er zwar Rente, aber seine Liebe zur Kunst ist immer noch dieselbe. Neben Airbrush-Arbeiten bemalt er alte Computer- und Fernsehbildschirme, Tische, Stühle oder auch Steine. Aber keine besseren Kiesel, sondern 20 Kilo-Steine und mehr. Seine Motive sind eine Mischung aus Fantasy und Surrealismus.
Seine Lebensgefährtin Claudia, mit der er seit dreieinhalb Jahren zusammen ist, unterstützt ihn nicht nur nach Kräften. Mit ihr ist er ebenso in der Oberhausener und Duisburger Kunstszene tätig und vernetzt. Früher stellte er seine Werke oft aus, für die Zukunft plant er eine Ausstellung mit anderen MS-Kranken.
Trotz seiner Leidenschaft muss er oft kämpfen: „Ich bin durch meine Krankheiten nicht immer allzu fit und schnell. Es gibt auch Tage, an denen ich überhaupt nichts hinbekomme“, sagt Bohm. Das liege aber auch an der hohen Medikation. Und: „MS-Kranke brauchen zehnmal mehr Energie als normale Menschen.“

Vorurteile abbauen

Andreas Bohms lebensbejahende Einstellung beeindruckte die Hertie-Stiftung, die ihn für ein Videoprojekt auswählte. Seit der Gründung der Stiftung spielt für sie die Erkrankung MS eine große Rolle, so fördert sie unter anderem die Hirn- und MS-Forschung.
Für das Projekt engagierte die Stiftung das Filmteam „Mesh Collective“ aus Berlin. Das 30-sekündige und trotzdem betont cineastische Miniportrait über Bohm soll ihn mit der Vollendung eines Wandgemäldes nicht nur in Aktion zeigen, sondern darüber hinaus Einblicke in sein Leben geben. Ein separates Miniinterview erweitert das Portrait.
„Die Erkrankung steht nicht im Vordergrund, sondern der Mensch. Unser Ziel ist es, auf die Erkrankung aufmerksam zu machen, aber auch Vorurteile abzubauen“, sagt Dr. Eva Koch, Leiterin der MS-Projekte der Hertie-Stiftung. Als häufigste neurologische Erkrankung des jungen Erwachsenenalters treffe MS die Menschen häufig dann, wenn sie mit Karriere- und Familienplanung beschäftigt seien. „Was auch überhaupt nicht vorbei sein muss. Aber die Vorurteile machen es nicht leichter, damit zu leben. Auch weil Arbeitgeber möglicherweise davon ausgehen, dass es einen schweren Verlauf nimmt.“ Den meisten Betroffenen sehe man ihre Erkrankung gar nicht an. Aber gerade deshalb ist laut Koch das Bild der schweren Gehbehinderung und des Rollstuhls präsent. Jedoch seien weniger als zehn Prozent auf ihn angewiesen und er bedeute auch nicht das Ende. „Der Mensch ist mehr als seine Diagnose“, fasst Koch zusammen.
Die Videos erscheinen auf den Social-Media-Kanälen der Stiftung sowie auf der Homepage unter www.ghst.de. Die Hertie-Stiftung ist der größte private Förderer der Hirnforschung in Deutschland und der drittgrößte in Europa. Im Bereich der MS ist sie die führende Förderinstitution sowohl in der Forschung als auch in der Selbsthilfe.
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