100 Kilometer zu Fuß durch IS-Gebiet: Burhan Mohammed erzählt von seiner Flucht

Der Bildhauer rekonstruiert seine gefährliche und Kräfte zehrende Odyssee

GELDERN. Der syrische Bildhauer Burhan Mohammed flüchtete im Juni mit seiner Familie aus seiner vom Bürgerkrieg erschütterten Heimat. Im türkisch-syrischen Grenzgebiet musste sich die Familie trennen: Der 42-Jährige setzte allein die gefährliche und Kräfte zehrende Odyssee quer durch Europa fort. Seine Frau und deren gemeinsame drei kleine Kinder kehrten in die Heimatstadt zurück.

Burhan Mohammed in seinem Atelier NN-Fotos: Marjana Križnik
Burhan Mohammed in seinem Atelier
NN-Fotos: Marjana Križnik

Die Bomben seien größer, der Bürgerkrieg zunehmend blutiger geworden: „Im vergangenen Jahr hatten wir keine Wahl, wir waren gezwungen Dar‘a zu verlassen, dies war islamischer als Damaskus”, erzählt Burhan Mohammed. Seine Familie und er lebten in der Grenzstadt im Süden Syriens. Die zwischenzeitlich stark umkämpfte Stadt Dar‘a war 2011 Ausgangspunkt für die ersten Proteste gegen die Regierung Baschar al-Assads gewesen. „Seit 2009 arbeitete ich in Damaskus bei einem Fernsehsender, ich baute historische Kulissen. Außerdem besaß ich eine eigenes kleines Atelier.” Burhan Mohammed möchte nicht groß über Politik sprechen. Er erzählt, dass es für Kunstschaffende unter dem Assad-Regime nicht einfach gewesen sei. „Jeder hat die Revolution herbei gesehnt. Ich bin palästinensischer Abstammung, habe mehrfach unter Assads Regierung zu leiden gehabt. Im Kunstbereich gab es sehr viel Korruption”, berichtet er und fährt fort: „Viele große Künstler konnten nicht existieren, weil sie nicht Teil des korrupten Systems waren. Ich bin eines dieser Opfer. Viele Talente wurde sozusagen lebendig begraben.”

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Bis 2013 habe er geschafft, seine Familie „über Wasser zu halten”. Aber dann wurde es zunehmend gefährlich. „Meine Brüder und ich siedelten mit unseren Familien in ein kleines, nahes Grenzdorf über. Einige konnten ein Haus bauen, wir hatten lediglich ein Zelt. Dann wurde es Winter und sehr kalt, und so musste eine Entscheidung her.” Das anschließende Ziel der Familie war die kleine türkische Stadt Kilis an der nördlichen Grenze zu Syrien. Zuvor hatte Burhan Mohammed eine schwere Entscheidung zu treffen: Der direkte Weg ins türkische Kilis, der über den Highwy führt, der Damaskus mit den Städten Homs und Aleppo verbindet, war für den Asylsuchenden tabu. Diese Straße sei vom Assad-Regime beherrscht worden und da er palästinensische Wurzeln habe, sei dieser Weg zu gefährlich gewesen. Die Familie musste sich erneut trennen. Während seine Frau mit den dreijährigen Zwillingsmädchen und dem eineinhalbjährigen Sohn den direkten Weg nahm, musste der Familienvater mitten durch von der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) beherrschtes Gebiet. „Ich legte die erste Etappe von 100 Kilometern zu Fuß zurück”, erinnert er sich. Ein lebensgefährliches Unterfangen. Denn: Als Bildhauer habe er quasi auf der Abschussliste des IS gestanden. In Kilis war die Familie schließlich wieder vereint. In der Türkei seien die Bedingungen zwar nicht schlecht gewesen, aber Mohammed gelang es nicht, dauerhaft den Lebensunterhalt sicher zu stellen. „Nach einigen Monaten schickte ich meine Frau und die Kinder zurück nach Syrien”, erinnert er sich. Er selbst wollte über die östliche Mittelmeerroute auf dem Landweg weiter.

Ein Fenster mit einem Vorhang
Ein Fenster mit einem Vorhang

Es gelang ihm, eine freie Überfahrt auf einem Schlauchboot vom türkischen Festland aus zur griechischen Insel Kos zu ergattern – als Bootsführer. „Wir waren 54 Syrer auf dem neun Meter langen Boot: Männer, Frauen und auch Kinder.” Es habe einen Zwischenfall mit der türkischen Polizei gegeben, das Boot sei auch beschossen worden. „Aber ich glaube, ich war gut, die Leute auf dem Boot mochten mich. Ich war ein Held für zwei Stunden”, sagt er mit einem Anflug von Lächeln. Nach Kos kam Athen und: „von da an war ich nicht mehr illegal”, berichtet er und fährt fort: „In Thessaloniki brachte uns ein Bus bis 36 Kilometer vor die mazedonische Grenze.” Nun galt es, die strapaziöse Östliche- Grenzen-Route hinter sich zu bringen: Mazedonien, Ungarn und Österreich. In der Nacht ging es zu Fuß nach Gevgelija in Mazedonien. „Dort war es bitterkalt, und es gab weder Decken noch Zelte, nur etwas Wasser. Schlafen war beinahe unmöglich”, erzählt Mohammed. Dann folgte ein Fußmarsch nach Kavadarci, um am Morgen mit dem Zug weiter nach Serbien zu reisen. „In Serbien wurden viele von uns überfallen”, berichtet der 42-Jährige. Dort habe es organisierte Banden gegeben, die gezielt Flüchtlinge ausraubten. In einer dritten Stadt habe er Flüchtlingsststatus erlangt und sei nicht mehr „illegal” gewesen. „Ungarn schließlich war der schrecklichste Part in unser aller Leben: Man wollte uns zwingen, Fingerabdrücke fertigen zu lassen. Sie terrorisierten uns, wandten üble Tricks an und nahmen uns auch in Haft.” Viele seien geschlagen und verletzt worden.

Dann kamen Budapest, Wien und schließlich brachte ihn der letzte Zug nach Frankfurt. Folgendes nahm er am Frankfurter Bahnhof war: „Als ich in die unzähligen Gesichter schaute, erblickte ich zu 90 Prozent fremdländische Gesichtszüge: asiatische, afrikanische und viele andere. Ich dachte: Es macht ihnen nichts aus, mit Ausländern zusammen zu leben.” In Ungarn dagegen, habe er kaum ein freundliches Gesicht gesehen. „Ungarn wollte uns nicht. Man hat uns sogar mit Messern attackiert. Sogar die Verkäufer waren unfreundlich”, sagt er und fährt fort: „Als ich mal eine Telefonkarte kaufen wollte, hat der Verkäufer die Polizei gerufen. Nach den Erfahrungen in Ungarn fing ich an, mich zu fragen: Wenn das Europa ist, wie würde es in den anderen europäischen Ländern werden?” Nach Frankfurt, dem saarländischen Liebach und Dortmund sei er dann Anfang August in Geldern angekommen. Nach der Zeit in der Unterkunft im alten Finanzamt teilt er sich nun mit anderen Flüchtlingen eine Wohnung. „In Geldern gefällt es mir. Es ist ruhig, schön und ideal für Familien,” sagt er. Er habe sich vorab nicht vorstellen können, das er hier willkommen sein würde. „Es gibt hier eine so gute Gemeinschaft”, sagt er lächelnd und fährt fort: „Ich war auch überrascht, dass es hier so viele junge Leute gibt. Dass eine vergleichsweise kleine Stadt es schafft, junge Menschen zu halten und ihnen so viele Perspektiven bietet, finde ich toll.”

Er selbst bekam die Möglichkeit, einen Raum der Atelier-Gemeinschaft am Brühlschen Weg zu nutzen. Freundschaften sind entstanden. Seine erste Werk-Serie zum Thema „Fenster” ist gleichsam eine Aufarbeitung („Ungarn war mein erstes Fenster nach Europa”).: Fenster seien Zeugen, man schaue hindurch und beobachte, sagt er. „Was bedeutet es, ein Fenster zu besitzen?” – diese Frage treibt den Bildhauer um. Aktuell arbeitet er an einer Holzskulptur in Form zweier sich anschmiegender Fenster, deren Konturen die Bewegung eines Menschen nachahmen, der sich in gebeugter Haltung fortbewegt. Außerdem steuert der Künstler auch Kunstschiffe für das gleichnamige Spenden-Projekt bei (wir berichteten). Am heutigen Samstag, von 11 bis 13 Uhr, sowie am morgigen Sonntag, 15 bis 17 Uhr, können Interessierte am Brühlschen Weg auch mit ihm ins Gespräch kommen. Für seine Zukunft wünscht sich Burhan Mohammed, unabhängig zu werden und arbeiten zu können. Aber das Allerwichtigste sei natürlich, wieder mit seiner Familie vereint zu sein.

 

 

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