This One Life

NIEDERRHEIN. Sharons Lachen gewinnt immer. Vielleicht lachen oft die am tiefsten, deren Geschichten mit Trauer gestrichen sind. Glück hat kein Gewicht. Spielt Alter eine Rolle? Natürlich. Nicht immer. Sharon ist 51. Zum 50. bekam sie die Inschrift: „Anamchara“ –  das ist Gälisch.

Auf Englisch heißt es Soulmate. Auf Deutsch:  Seelenverwandter. Sharons Geschichte beginnt 1964 in Omagh, Nordirland. Eine Kulisse stellt sich ein. Nordirland in den Sechzigern – man denkt an Glaubenskriege. Katholen gegen Evangelen. Sharon: Evangelisch. Sharon studiert Französisch. („Gesprochen habe ich das eigentlich nie.“) 1994: Deutschland. Das erste Mal. Fünf Wochen ist sie dort, dann trampt sie mit ihrem Freund nach Spanien, bleibt zwei Monate, geht zurück nach England – dann wieder nach Deutschland. Das Leben als Metapher. Die Metapher: Unterwegs. Sharon lebt von der Sprache: Sie unterrichtet. Nicht Französisch. Englisch. („Beim Unterrichten bin ich ein geduldiger Mensch“, sagt Sharon, „sonst eher nicht.“ Und: „Unterricht ist anstrengend, denn du musst viel investieren.“)

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Mittlerweile lebt sie in Saarbrücken. Ihr erster Nichtsprachjob in Deutschland: Komparsin beim Film. In Saarbrücken??? „Ja. Ich weiß nicht mehr, wie der Film hieß.“ Ein Tatort, sagt Sharon, war’s jedenfalls nicht. Nach dem Film: Arbeit in einem Café. Zwei Mal die Woche. Sie lebt in einer WG. („Wenn du allein bist, kannst du dich immer irgendwie über Wasser halten.“) Immer wieder: Englischunterricht. Zuerst privat – dann für das Carl-Duisburg-Zentrum. („Das ist ein bisschen wie die Goethe-Institute.“) Sharons Plan: Ein Sprachkurs in London. Am Ende wird sie zertifizierte Sprachlehrerin sein. Zertifikate sind nützlich – vor allem, wenn das Reisen als Teil des Lebens geplant ist.

Dann ein Rosenmontag in Saarbrücken. Sharon ist eingeladen bei einem Dozenten zuhause. Der will mit seinen Studenten nordirische Gedichte besprechen. Eine Freundin, die an dem Kurs teilnimmt, hat gesagt: „Ich kenne da eine, die stammt aus Nordirland.“ Die Eintrittskarte. Poesie an einem Rosenmontag. Kann das gehen? Es geht. Nicht nur das. Sharon lernt ihren späteren Mann kennen. Er ist Journalist und studiert gleichzeitig. Noch immer lautet der Plan: Der Sprachkurs, das Zertifikat, die Welt. Es kommt anders. Sharon wird schwanger. Geplant, sagt sie, war das nicht. Aber was ist schon Planung? Du stehst auch nicht morgens auf und planst, den Mann fürs Leben kennenzulernen.
Im vierten Monat schwanger reist Sharon nach London, nimmt an dem Kurs teil, bekommt ihr Zertifikat … und geht zurück nach Deutschland.

„In meinem Leben passiert viel in Zehnerschritten“, sagt Sharon. Als sie 30 ist, geht sie nach Deutschland, zehn Jahre später ziehen sie, ihr Mann und Sohn Dylan nach Berlin. Sharon unterrichtet, arbeitet in einem Kindergarten und merkt irgendwie nicht, dass etwas nicht stimmt mit ihr – dass sie langsam ausbrennt. Immer öfter wird sie krank – mal ist es ein Schnupfen, mal eine Bronchitis. An ihrem Geburtstag, es ist der 13. März 2010, bekommt sie eine Lungenentzündung.
Seit ihrem 18. Lebensjahr leidet sie an Alopecia (kreisrunder Haarausfall). „Man weiß noch nicht wirklich viel über diese Krankheit. Sie gilt als Autoimmunkrankheit und wird zu den psychosomatischen Krankheiten gezählt“, sagt Sharon. Als sie im Abistress steht, treten die Symptone erstmals auf. Jetzt – mit dem Burnout – verliert Sharon alle Haare. „Man sagte mir, dass sich mit Chemie etwas machen ließe, aber das wollte ich nicht.“

Sharon Gerber-Crawford: Seit ihr Sohn sagte „Mama, zeig dich einfach wie du bist“, geht Gerber-Crawford ohne Mütze und Perücke raus.
Sharon Gerber-Crawford: Seit ihr Sohn sagte „Mama, zeig dich einfach wie du bist“, geht Gerber-Crawford ohne Mütze und Perücke raus.

Sharon beginnt, Mützen zu tragen und Perücken. „Irgendwann sagte dann mein Sohn: Mama, zeig dich doch einfach wie du bist.“ Sharon gewöhnt sich an ihr Aussehen. Sieht sie Fotos von früher, denkt sie manchmal: Wer war das? Sieht sie Bilder von heute, denkt sie: Wer ist das?
Manchmal, wenn sie über die Straße geht und Leute sich umdrehen, wird ihr klar: Da sind keine Haare auf ihrem Kopf. Die Tattoos? Ach ja: „Ich habe mein erstes Tattoo mit 27 bekommen.  Ich wollte immer eins haben, aber in meiner Jugend haben nur Soldaten und Sträflinge Tattoos gehabt“, sagt Sharon. Das Erste ließ sie sich in Sheffield stechen. Sie ging in einen Laden und wusste eigentlich nicht, was sie wollte. „Kommen Sie später wieder, wenn Sie es wissen“, sagte der Tätowierer, aber Sharon wollte es sofort. „Ich hatte so lange überlegt. Da konnte ich nicht einfach wieder gehen.“

Sie ließ sich Rosen und eine Schlange stechen. „Eigentlich weiß ich bis heute nicht, was das zu bedeuten hatte“, sagt sie und meint nicht das Tattoo sondern Rose und Schlange.  Später in Berlin – Sharon war jetzt 45 – ließ sie das Tattoo auffrischen und erweitern. Zu Rose und Schlange kamen eine 13 („Ich bin an einem Freitag, den 13. geboren.“) und ein ‘D’. „Das D steht für Dylan. Das ist unser Sohn.“ Nein – Namen muss man sich nicht stechen lassen. Der Anfangsbuchstabe des Vornamens ihres Sohnes – das gehört zu den Dingen, mit denen sie die Ewigkeit teilen kann.

„Ein Tattoo ist ja für immer. Das muss man sich überlegen.“ Zu Rose und Schlange auf der Schulter sollte ein Fisch am Bein kommen, „aber plötzlich wollte ich was anderes haben.“ Es entstand das bisher Wichtigste Tattoo: Ein aufgeschlagenes Buch mit einer Schreibfeder und den Worten: „This one Life“. (Dieses eine Leben.) Sharon schreibt selbst. Das Tattoo: Teil ihrer Reise, die längst nicht mehr so sehr an Längen- und Breitengraden ausgerichtet ist. „This one Life“ ist das Dokument einer Reise in die eigene Seele. „Ich sehe das jeden Tag auf meinem Unterarm und freue mich, dass es da ist.“

Zum 50.: Der gälische Schriftzug. Ein Tattoo auf dem Rücken? Für Sharon unvorstellbar. „Ich muss das doch sehen können.“ Langsam aber sicher geht ihre Reise dahin, den Menschen zu akzeptieren, der sie ist. „Gerade das Buch-Tattoo hilft mir dabei“, sagt sie. Soll es weitere Tattoos geben? „Auf jeden Fall“, sagt Sharon. Nein – Sohn und Mann sind nicht begeistert.

„Ich frage mich ja, warum es Menschen gibt, die sich ein Tattoo stechen lassen und solche, die das niemals machen würden.“ Tattoos sind Dokumente. Sie stehen für ein Stück Unauslöschbarkeit vor dem Ende. „Du musst dich akzeptieren“, sagt Sharon.  „This one Life“ hilft ihr dabei. Es ist die Erinnerung an das, was man Bilanz nennt. Eines ihrer Ziele: Vielleicht einen Blog einrichten. Eine Art Anlaufstelle. „Es gibt so viele Frauen, die an Haarausfall leiden. Bei den einen hat es mit einer Chemotherapie zu tun, bei anderen mit Alopecia. Viele trauen sich nicht mehr aus dem Haus.“ Sharon hat einen Weg gefunden. „Früher hatte ich eine blonde Löwenmähne“, sagt sie … und lacht. Ihr Lachen gewinnt immer.

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