Elf Zeugen, elf Perspektiven

Unbefleckt

Elf Zeugen brachte der zweite Verhandlungstag beim Prozess gegen einen 57-jährigen Gesellen, dem die Anklage Vergewaltigung, Körperverletzung und sexuellen Missbrauch von  Schutzbefohlenen sowie Besitz von jugendpornografischen Schriften vorwirft. Die ehemaligen Chefs des Angeklagten sagten ebenso aus wie einige seiner ehemaligen Kollegen, die ehemalige Freundin eines der mutmaßlichen Opfer sowie die Ehefrau des Angeklagten. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen den Altgesellen haben man dessen Vertrag in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst, sagen Senior- und Juniorchef aus. Hier geht es, denkt man, um einen Zustand des Unbeflecktseins.

Nie etwas geahnt

Man habe, so die beiden, vorher nie etwas geahnt und sei mit der Arbeit des Gesellen immer zufrieden gewesen. Auch die ehemaligen Kollegen – der Angeklagte hatte 30 Jahre in einem Gocher Betrieb gearbeitet – hatten nie etwas geahnt. A. wurde mal als aufbrausend beschrieben und als einer, der sich den Chefs gegenüber „einiges an Kritik erlaubte“, aber auch als einer „mit dem das Arbeiten Spaß gemacht hat“, wie ein ehemaliger Auszubildender sagte. Die Mutter des 2. Opfers sagte aus, sie habe A. und dessen Familie anfangs in Ordnung gefunden. („Die waren echt nett.“) Ihr Sohn habe zwischenzeitlich bei A. gewohnt. „Ich fand es gut, dass der meinen Sohn unter seine Fittiche genommen hat.“ Mit der Zeit sei ihr Sohn mehr und mehr in sich gekehrt und am Ende auch aggressiv gewesen, aber sie habe das eher auf sich bezogen, bis ihr Sohn sich ihr anvertraut habe.

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Leidenschaftlich

Letzte Zeugin am 2. Verhandlungstag war die Ehefrau des Angeklagten, die nicht von ihrem Recht Gebrauch machte, nicht aussagen zu müssen. „Sie sollen einmal zu Silvester gesehen haben, wie sich Ihr Mann und Herr O. geküsst haben.“ „Korrekt.“ „Wie würden Sie den Kuss beschreiben?“ „Das war leidenschaftlich.“ „Können Sie das genauer erklären?“ „Das war eben leidenschaftlich. Die haben sich umarmt und der Kuss war ein Zungenkuss.“ Der junge Mann, der zwischenzeitlich bei A. und dessen Familie wohnte, habe sich – so die Ehefrau – ihrer Einschätzung nach „mehr und mehr in unsere Beziehung gedrängt. Wenn mein Mann ferngesehen hat, dann saß der O. neben ihm. Da, wo ich sonst gesessen habe.“ Dass O. sich ein Tattoo mit den Initialen ihres Mannes habe stechen lassen, kommentierte die Frau mit: „Ich habe mir meinen Teil gedacht.“ Sie habe nicht geglaubt, dass es die Initialen einer Band gewesen seien, habe auch nicht danach gefragt. Die Beobachtung des leidenschaftlichen Kusses sei ein Schock für sie gewesen, obwohl sie „immer irgendwie etwas geahnt“ habe.

Aus Versehen

Befragt, ob sie etwas zu der Tatsache sagen könne, dass auf dem Computer ihres Mannes Pornobilder von Minderjährigen gefunden worden seien, sagte die Frau: „Mein Mann sagte mir, er sei versehentlich auf solchen Seiten gelandet“ und habe auch gesagt, „man sieht ja nicht, ob die minderjährig sind“. Ob sie gewusst habe, dass ihr Mann „auf Männer stehe“: „Ich habe das geahnt.“

Glatt draußen

Ob ihr Mann auf dem Heimweg von einer betrieblichen Weihnachtsfeier dem O. in den Magen geboxt habe? „Das kann nicht sein. Es war glatt draußen. Ich hatte glatte Schuhe an. Mein Mann hat mich im Arm gehalten, damit ich nicht falle.“ Da sei es unmöglich, dass ihr Mann gleichzeitig jemandem in den Magen geboxt habe.

Nichts gemerkt

Da sind also die einen, die nie etwas gemerkt haben, bis „die Sache“ offiziell wurde; da sind die, die vielleicht etwas ahnten; die, die, wenn es um die „Glaubensfrage“ geht, den Opfern glauben. „Ich hatte keinen Grund zu zweifeln.“ Da sind schließlich auch die beiden mutmaßlichen Opfer, die bei manchen Antworten der Zeugen des zweiten Tages durch Kopfschütteln Sprachlosigkeit dokumentieren. Man will nicht in ihrer Haut stecken. Man möchte hier in niemandes Haut stecken, denn alles hier atmet Verzweiflung. Und A. sitzt auf der Anklagebank: wortlos, reglos, einsam. Einer, der – würde es ein Reset geben – vielleicht anders handeln würde. Aber: Das hilft jetzt nicht. Die Einsamkeit des Herrn A. ist nur schwer sichtbar. Sie ist nicht von der Art, die man bemitleiden müsste. Sie ist von der Art, die kein Hinterland mehr zur Verfügung stellt – keine Rückzugsorte bietet außer denen, die nur im Leugnen zu finden sind. Es ist die Art von Einsamkeit, in der man sich am Ende selber gegenübersteht. Menschlichkeit und Monstrosität treten an. Eine Gabelung entsteht. Auf der einen Seite das Leugnen – ein Scheinweg. Auf der anderen Seite das Bekenntnis, das nur der Anfang eines Weges ist, von dem A. sich wohl nicht vorstellen kann, ihn zu gehen. Es ist ein Gang in die eigene Schuld, die das eigene Leben zu einem Fehler zu machen scheint.

Ein Teppich

Viele, denkt man, haben heute einen Teppich dabei: Es ist die Art von Teppich, die gebraucht wird, um alles Unpassende darunter verschwinden zu lassen. „Als Zeuge muss man die Wahrheit sagen“; hat der Vorsitzende jeden belehrt. Jetzt und hier lernt etwas über die Biegsamkeit des Wirklichen. Was, wenn jemand von einem irgendwie spontanen Gedächtnisverlust heimgesucht wird? Was soll man da machen? Man will doch nichts Falsches sagen. So erlebt man die planvolle Entsorgung einer unbrauchbaren gewordenen Vergangenheit.

Zustände

Man denkt über die Zustände nach, die hier – manchmal nur als Randnotiz offenbar werden. Eine Ehefrau – „Ich bin da nicht stolz drauf.“ –, die mit den Bekannten ihres Mannes schläft, während der sich dabei als Filmemacher betätigt. Eine Ehefrau, die, ohne der Wahrheit zu nahe zu kommen, Eindrücke schildert. („Der hat sich in unsere Beziehung gedrängt.“) Ständig hat man diesen Teppich im Kopf, dessen Wölbungen stetig anwachsen. Gärtner sind am Werk: Gras muss wachsen. Über all die Unaussprechlichkeiten. Hier die Fleckenentferner – dort die, deren Leben befleckt, beschädigt, zerkratzt zurückbleibt.

Am letzten Verhandlungstag werden Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung ihre Sicht auf die Dinge in ihren Plädoyers ein letztes Mal deutlich machen, bevor am Ende das Gericht sein Urteil sprechen wird.

Der 1. Teil des Prozesses

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