Vergangenheit als Monster

Herr A. ist Jahrgang 1967. Er ist Handwerker: Alt-Geselle. Herr A. ist verheiratet. Zwei Kinder. Herr A. hat sich verliebt. Es hat ihn schlimm erwischt. Kein Problem, denkt man. Soll er sich verlieben. Ist ja seine Sache.

Eine Anklage

Das Problem: Herr A. steht vor Gericht. „Strafverhandlung gegen einen 57-jährigen Deutschen wegen (versuchter) Vergewaltigung, Körperverletzung, sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, Besitz von jugendpornografischen Schriften und Nötigung; angeklagt sind insgesamt 20 Taten. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte die Taten in dem Zeitraum vom 1. September 2009 bis zum 6. Mai 2019 in Goch und andernorts begangen haben. Er war im Tatzeitraum Geselle in einem Gocher Unternehmen, in dem die 1989 und 1998 geborenen Opfer in den jeweiligen Tatzeiträumen ihre Ausbildung absolvierten. Während der Ausbildungszeit soll es zu den in der Anklage aufgeführten sexuell motivierten beziehungsweise körperlichen Übergriffen des Angeklagten gekommen sein.“

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Ein Antrag

Der Prozess beginnt mit einem Antrag: Die Öffentlichkeit soll ausgeschlossen werden, beantragt A.s Verteidiger. Intime Dinge sollen zur Sprache kommen. Die Opfer: zum Tatzeitpunkt nicht volljährig. Die Staatsanwältin sieht ein öffentliches Interesse und der Nebenklagevertreter sagt, die Opfer seien bereit, öffentlich auszusagen. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück und entscheidet: „Dem Antrag wird nicht stattgegeben.“ Das öffentliche Interesse obsiegt. Herr A. wird, was passiert, öffentlich über sich ergehen lassen müssen.

Ein Unscheinbarer

Herr A. ist einer von den Unscheinbaren. Still sitzt er auf der Anklagebank. Ja, er wird Angaben machen: zur Person und zur Sache. Ja, er gibt zu, dass Handlungen stattgefunden haben. Gewalt von seiner Seite hat es nicht gegeben – irgendwie deutet A. eine Art Gegenteil an. Eines der mutmaßlichen Opfer (noch ist ja auch A. nur ein mutmaßlicher Täter) hat ihm sogar einen Liebesbrief geschrieben. Und das andere (mutmaßliche) Opfer hat sich – anlässlich von A.s Geburtstagsfeier zum 50. – sogar mit dem Satz „Ich liebe dich“ auf der Gästerolle verewigt. A. hat niemandem ins Gesicht geschlagen, niemandem in den Magen geboxt, niemanden mit einem Cuttermesser bedroht und auch nicht damit, im Falle eines Brechens des Schweigens seitens der Opfer mit dem Auto gegen einen Baum zu fahren. A., der Alt-Geselle, war maßgeblich an der Ausbildung der beiden jungen Männer beteiligt. A. – in seinem Betrieb, für den er mehr als 30 arbeitete, hoch angesehen.
Die Opfer haben lange geschwiegen – haben erduldet, was A. ihnen antat. Sie haben sich geschämt. Hatten Angst vor dem, was passieren würde, wenn sie ihr Schweigen brechen. Sie entschieden sich für das „Erdulden“ und waren A. zu Diensten. A. sagt: Es sei um Liebe gegangen. Die beiden sagen: Es war ein Erdulden.

Höllentage

„Wenn ich mich verweigert habe, dann hat der mir den Tag zur Hölle gemacht“ – das sagen später beide in ihren Vernehmungen. Die sexuellen Handlungen mutierten zu einer Art kleinerem Übel. Lieber die sexuellen Handlungen als Tage in der Hölle: Dieser Eindruck entsteht, während man den beiden durch die Befragungen folgt. Die beiden durchliefen ihre Ausbildung zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Kannten einander nicht. Die Geschichten aber ähneln sich – fast sind sie deckungsgleich: A.s erste „Annäherungen“ empfanden beide anfänglich „als Scherz“ – konntenwollten nicht glauben, dass da ein Alt-Geselle Dinge sagt wie: „Ich würde dir gern einen blasen.“ Man muss das wörtlich zitieren. Alles Umschreiben hilft ja nicht weiter. Wenn es dann geschah, wurde, was ablief, teils von A. gefilmt, sagen die beiden und sie sagen auch, dass sie mit dem so entstandenen Material unter Druck gesetzt wurden. All das ist auf eine besondere Art perfide. Das Motto: „Wenn du nicht tust, was ich von dir verlange, werde ich das Material veröffentlichen.“ So ließe sich erklären, dass alles erst aufflog, als die Opfer ihre Lehre längst beendet hatten.

Ein bester Freund

Einer von ihnen vertraute sich seinem besten Freund an. Der hatte immer wieder nachgefragt, weil er sich Sorgen machte um einen, der immer stiller wurde. Irgendwann bei einer Autofahrt dann der letzte Versuch einer Frage. Und dann – unter Tränen – die Mitteilung aus der Hölle. „Die Sache“ kam ins Rollen. Anzeige wurde erstattet: Jetzt also der Prozess. Ein Prozess, in dem A. vieles einräumt, aber: „Gewalt hat es“, sagt er, „nie gegeben.“ A. meint, denkt man, körperliche Gewalt. Er wird eine Vorstellung davon haben, dass es Qualen jenseits des Körperlichen gibt. Einer, der mit Veröffentlichung intimster Filmaufnahmen droht, tut das, weil er sich bewusst ist, welche Macht ihm die Scham der anderen zur Verfügung stellt. A. gibt sich nicht mit den sexuellen Handlungen zufrieden. Er greift in das Leben der Opfer ein: zahllose Telefonate, Nachrichten. All das wirkt uferlos. A. sagt: Es sei um Liebe auf beiden Seiten gegangen.

Eine eigene Familie

Die Aussagen der beiden jungen Männer – sie sind mittlerweile Mittzwanziger mit eigenen Familien – zeichnen ein anderes Bild. Es ist das Bild vom Stillhalten. Vom Erdulden des vermeintlich kleineren Übels. Beide haben, sagen sie, dem, was A. da tat, nie zugestimmt. Aus einem anfänglichen „Nein“ wird das spätere Stillhalten. Der zweite der beiden spricht mit verlöschender Stimme. Da trägt einer schwer am Geschehenen und will, was geschehen ist, nicht laut sagen, weil die Scham so groß ist. Manchmal, sagt er, komme auch heute noch dieses Gefühl zurück: wenn auch nur selten. Immer wieder der Satz: „Wenn ich nicht getan habe, was der wollte, dann hat der mir den Tag zur Hölle gemacht.“

Ein Tatoo

Was soll ein Verteidiger machen? Er muss Fragen stellen, ohne die mutmaßlichen Opfer zu demütigen. Es geht um Angriffe, die keine Wunden schlagen. Einmal zuckt man zusammen. Verteidiger: „Sie haben auf Ihrem rechten Oberschenkel ein Tatoo. Auf dem Tatoo: die Initialen meines Mandanten. Wie erklären Sie das?“ „Es sind nicht die Initialen Ihres Mandanten. Die Buchstaben stehen für einen anderen Begriff.“ (Es ist, erfährt man, ein Begriff aus der Auto-Tuner-Szene.) „Der Frau meines Mandanten haben Sie erklärt, es handele sich um den Namen einer Musikgruppe“, kontert der Verteidiger.

Eine Auslöschung

„Der A. wusste, dass ich mir ein Tatoo stechen lassen wollte.“ Er, der Zeuge, könne doch etwas von ihm, A., ins Tatoo einbauen lassen, erklärt der junge Mann. Alles kann stimmen. Die Initialen seien jetzt „nicht mehr da“, erklärt der Zeuge und einen Augenblick lang fragt man sich: Wieso Buchstaben eleminieren, wenn sie nur für ein Hobby stehen? Vielleicht, denkt man dann, ist schon die Möglichkeit einer denkbaren Duplizität unerträglich. Es geht um das Wegwischen, die eigentlich unmögliche Auslöschung einer Vergangenheit, die sich nicht ausradieren lässt – die immer wieder aus dem Hintergrund angreift. Ohne Vorwarnung. Es geht, denkt man, darum, dass nichts Wirkliches eine Brücke ins Erinnern zulässt. Buchstaben sind eine Brücke in diese Wirklichkeit …

Eine Spur zur Wahrheit

Der erste Tag hat Ratlosigkeit hinterlassen. „Gibt es Menschen, die mitbekommen haben, wie der A. mit Ihnen umgegangen ist, wenn er seinen Willen nicht bekommen hat?“, fragt der Verteidiger. „Ja. Die müsste es geben.“ Einige werden am nächsten Verhandlungstag befragt werden. Heute hat sich, denkt man, die Hölle wieder einen Spalt breit geöffnet. Die beiden jungen Männer können zurückfinden ins Gegenwärtige. Sie können versuchen, die Vergangenheit ein weiteres Mal hinter sich zu lassen.
Man kann nicht in die Köpfe schauen – nicht in den von A. und nicht die Köpfe der beiden jungen Männer. Das Gericht ist auf der Spur einer schwer zu findenden Wahrheit. Man fragt sich, was A.s Frau empfindet und A.s Kinder. Wieder einmal offenbart sich die traurige Wahrheit, dass in Verfahren wie diesem am Ende nur verloren wird. Auf allen Seiten.

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