Eingeschlossen, ausgeschlossen: Eine Weihnachtsgeschichte

NIEDERRHEIN. James ist 40, geboren irgendwo im Süden der Republik. Wenn James von seinem Leben erzählt, denkt man, dass in seinen 40 Jahren mehr Drama steckt als andere in 70 Jahre oder mehr packen …

Startverlierer

Der Vater: drogensüchtig und längst verstorben. James fing – da war er neun Jahre alt – mit Zigaretten an. Danach nahm er an Drogen so ziemlich alles, was geht. Mittlerweile hat er nicht nur ein Zimmer und eine Freundin – er hat auch die Sache mit den Drogen in den Griff bekommen. Geblieben ist Cannabis.

-Anzeige-

Alles oder nichts

Weihnachten auf der Straße – das bedeutet in erster Linie: Winter auf der Straße. Es geht um alles oder nichts: ums nackte Überleben. Um den nächsten Schuss, die nächste Flasche Fusel. Das trifft nicht auf alle zu. Manchmal geht es auch „nur“ um den Platz zum Schlafen. Um die nächste Mahlzeit.

Mich nützlich machen

„Weihnachten – das hat für mich in erster Linie eine christliche Bedeutung, aber längst ist ja aus dem Fest eine Kommerznummer ohne Hintergrund geworden“, sagt James, der seinen Tagesablauf so skizziert: „Aufstehen, beten, zur Klosterpforte gehen, frühstücken, mich nützlich machen.“ Weihnachten, sagt James, „ist die Zeit, wo Menschen auch Obdachlose wahrnehmen.“ Da sitze ich mit dem Auftrag, die Weihnachtsgeschichte zu liefern.

Kein Platz

Das Lukas-Evangelium: „ … Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge …“ So fing alles an. Und auch heute haben viele keinen Platz in der Herberge. Da ist das Menschlichkeitsgefühl an allen Ecken, aber da ist auch die Frage, die sich jeder stellen sollte: Was, wenn einer von den Unsichtbaren Heiligabend vo der eigenen Haustüre stünde? Vielleicht ist es auf der Straße ein bisschen wie Knast. „Im Knast“, sage ich, „ist Weihnachten das Katastrophenfest. Es geht um das Auftauchen der unausweichlich größtmöglichen Einsamkeiten.“

Eingeschlossen, ausgeschlossen

„Im Knast“, sagt James, „bist du eingeschlossen – auf der Straße ausgeschlossen.“ Es läuft auf dasselbe hinaus. „Auf der Straße“, sagt James, „bist du permanent isoliert.“
„Wie es ist, wieder ein Zuhause zu haben?“, frage ich. „Schwer“, sagt James. „Da gibt es viel, was du neu lernen musst – zum Beispiel auf Menschen zuzugehen. Um Hilfe zu bitten. Das Schwierige daran war für mich, dass ich begreifen musste: Es kann immer auch ein ‚Nein‘ kommen, wenn du auf Menschen zugehst. Das habe ich vorher ausgeblendet. Es ist verdammt schwer, mit einem ‚Nein‘ umzugehen.“

Träume, Wünsche

Gibt es einen Traum? „Ja. Einen Gutshof haben. Dort Tiere pflegen.“ „Ist das nicht unrealistisch?“ „Du hast nach einem Traum gefragt.“ Stimmt, denke ich. „Und wie wär‘s mit einem Wunsch?“ „Ich würde gern eine Ausbildung machen. Ich möchte mich als Ex-In nützlich machen.“ Was, bitte schön, ist ein Ex-In? „Das ist einer wie ich, der Erfahrungen auf der Straße und oder im Drogenmilieu gesammelt hat und sie weitergibt. Eine Art Sozialarbeit.“ Im Internet liest es sich wie folgt: „Die EX-IN machen deutlich, dass es den Klienten nicht hilft, wenn andere – ob professionell Tätige oder Genesungsbegleiter – ihnen vorschreiben, was gut für sie ist. Es gilt, dass das die Klienten selbst für sich herausfinden müssen und nicht bevormundet werden sollten.“

Tierschutz

James, denke ich, ist einer, der im Leben viel gelernt hat. Er holt ein Smartphone aus der Tasche und zeigt mit Bilder aus einer Obdachlosenunterkunft: „Schau dir das an“, sagt er und ich kann es nicht fassen: Kotbeschmierte Wände, verdreckte sanitäre Anlagen. Schimmel an den Wänden.“ Würde man einen Hund hier unterbringen, würde es Ärger mit dem Tierschutz geben …

Eine eigene Wohnung

James hatte mit 30 einen Herzinfarkt, James hat Diabetes, eine posttraumatische Belastungsstörung – James hatte Hodenkrebs. Und doch sitzt da einer, der seinen Optimismus nicht verlernt hat. „Ich bin so froh, dass ich jetzt wenigstens ein Zimmer habe.“ Noch ein Wunsch? „Eine eigene Wohnung.“

NN-Foto: Rüdiger Dehnen

Hierarchien

Wie sieht es auf der Straße mit Hierarchien aus? „Hierarchien gibt es überall. Menschen leben davon, zu wissen, dass es jemanden gibt, auf den sie herabsehen können. Wir Obdachenlosen haben also eine Funktion. Wir sind die, auf die man herabschaut. Aber weißt du: Das Schlimme sind nicht die, die du siehst – schlimm wird es, wenn du unsichtbar bist. Das ist der endgültige Absturz. Du hast die Bilder gesehen. Wenn du da landest, bist du wirklich am Ende.“

Dramatisch anstrengend. Dramatisch besser.

Wie ist das Leben nach dem Leben auf der Straße? „Dramatisch anstrengend. Dramatisch verletzlich. Dramatisch besser. Ich musste das Funktionieren lernen – das Trauma überwinden, in einer Zwischenwelt hängen geblieben zu sein. Die einzige Lösung: Leben im Moment.“
Aus der Weihnachtsgeschichte nach Lukas: „Und der Engel sprach zu ihnen: ‚Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.“ (Vielleicht sollte man erwähnen, dass Lukas nicht der Lokomotivführer ist, sondern einer der Evangelisten aus dem Neuen Testament.
James wird Heiligabend in der Klosterpforte sein. Der Ort ist ein Stück Zuhause geworden.

Vorheriger ArtikelGefeierte Konzertshow aus London kommt nach Köln
Nächster ArtikelSechs Personen bei Gebäudebrand verletzt