Detlef Lichtrauter mit einer Verschickungskarte. „In den 50er-Jahren wurden Sonderzüge eingesetzt, mit denen die Kinder in die Kurheime gebracht wurden“, erzählt er. Ein lukratives Geschäft – für viele Beteiligte. NN-Foto: vs

NIEDERRHEIN. Mindestens acht Millionen Kinder wurden von der Nachkriegszeit an bis in die 1980er-Jahre in Heime an der See oder in den Bergen „verschickt“. Zur Erholung. Die Realität sah oft anders aus: In vielen Heimen herrschte ein strenger Umgang mit den Kindern, psychische und körperliche Gewalt waren an der Tagesordnung.

Während Zeitzeugen heute berichten, dass dies der Bevölkerung vor Ort meist bewusst war, wähnten die Eltern ihre Kinder in besten Händen. „Wir mussten vorgegebene Standard-Texte auf Postkarten schreiben, die dann nach Hause geschickt wurden. Briefe mit kritischem Inhalt wurden zerrissen“, erinnert sich Detlef Lichtrauter an die allgegenwärtige Zensur. Der Musiklehrer aus Sevelen ist der Landeskoordinator NRW der „Initiative Verschickungskinder“, die 2019 von Anja Röhl gegründet wurde (www.verschickungsheime.de) und 1. Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW“. Ziel der Initiative ist, einen gesellschaftlichen Diskurs über das widerfahrene massenhafte Leid, die Anerkennung, Aufarbeitung und sorgfältige Erforschung der Geschehnisse zu führen.

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Es finden Gespräche mit der Bundesregierung, Landesregierungen und Trägern der Kinderkurheime statt, um zu erreichen, dass die Archive für die Menschen, die zur Aufklärung des Schicksals der Verschickungskinder beitragen wollen, geöffnet werden. Ziel ist auch, selbstverwaltete Anlaufstellen für Betroffene zu schaffen. Erste Selbsthilfegruppen in NRW gibt es bereits. Ehemalige Verschickungskinder können sich mit ihrer Geschichte an den Verein wenden, sowie Beratungs- und andere Hilfsangebote in Anspruch nehmen.

Diagnose: zu dünn

Detlef Lichtrauter wurde 1973 von seinem Hausarzt für sechs Wochen in „Kur“ geschickt. Da war er zwölf Jahre alt. Die – damals gängige – Diagnose: zu dünn. Es folgten Zwangsernährung, Toilettenverbot und Prügel. „Erbrochenes musste wieder aufgegessen werden“, erzählt Lichtrauter. Gegen das Heimweh gab es „Beruhigungspillen“. Wer beim verordneten Mittagsschlaf die Augen öffnete, bekam eine Ohrfeige. „Das Schlimmste waren der aggressive Umgangston und die ständige Angst“, sagt Lichtrauter, der viele Jahre gebraucht hat, bis er über seine Erlebnisse in dem Kurheim in Bonn-Oberkassel reden konnte. „20 Jahre lang habe ich erstmal alles verdrängt“, sagt er.

Pädophiler Heimleiter

Wiederkehrende Albträume und das Gefühl, nicht damit abschließen zu können, führten schließlich dazu, dass er anfing zu recherchieren. Dabei stieß er auf den offenen Brief einer ehemaligen Angestellten, die sich beim Kinderschutzbund über die Vorgänge in dem Heim beschwert hatte. Erst nach der dritten – im Vorfeld angekündigten – Prüfung wurde die Einrichtung 1976 geschlossen. Später fand man heraus, dass der damalige Leiter offenbar zur Pädophilie neigte. „Man hat eindeutige Bilder gefunden“, weiß Lichtrauter. An ihn kann er sich gut erinnern. „Der hat am lautesten gebrüllt“, sagt er. Dass der Heimleiter auch sein Personal schlecht behandelt hat, kann man erahnen. „In einem Jahr wurden 26 Mitarbeiter ausgewechselt“, hat Lichtrauter im Zuge seiner Recherchen erfahren.

Kein Einzelfall

„Ich dachte lange Zeit: Das ist nur mir passiert. Oder: Ich bin es selbst schuld“, versucht Lichtrauter zu erklären, weshalb er so lange geschwiegen hat. Seinen Eltern hat er es nicht erzählt. „Das geht übrigens vielen anderen Betroffen ähnlich“, weiß er heute. Auf der Homepage der Ini­tiative haben mittlerweile rund 5.000 ehemalige „Verschickungskinder“ aus ganz Deutschland ihre persönliche Geschichte erzählt. Viele leiden heute unter Störungen, sind schwer traumatisiert. „Natürlich möchten wir nicht alle Heime pauschal verurteilen“, stellt Lichtrauter klar. Sicherlich habe es auch viele Einrichtungen gegeben, in denen es den Kindern gut ging. Aber ausblenden will er es nicht mehr. „Wir möchten, dass das wissenschaftlich aufgearbeitet wird“, stellt Lichtrauter noch einmal heraus. Er möchte wissen, was in seiner Krankenakte steht – „und welche Medikamente mir verabreicht wurden“, sagt er. Ob er irgendwann damit abschließen kann? „Wahrscheinlich nicht“, sagt er. Aber er könne versuchen, es zu „verarbeiten“.

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