Transformanten oder: Weltbühne Graefenthal

Vielleicht geht es um Deutungshoheit. Bestimmt sogar. Prozesse sind ein Ringen um die Deutungshoheit für Geschichten. Taten sind Geschichten. Erzählungen. Sie werden im Lauf der Verhandlung immer wieder von Neuem erzählt – aus unterschiedlichen Perspektiven.

Andere Ziele

Da ist die Staatsanwaltschaft: Sie erhebt Anklage und ist überzeugt, eine stichhaltige Geschichte erzählen zu können – eine, an deren Ende aus einem Angeklagten ein Täter wird. Da ist die Verteidigung und steuert ganz andere Ziele an: Präsentiert sie keinen geständigen Täter (auch das gibt es ja), ist sie bemüht, eine Geschichte mit anderem Inhalt zu erzählen. Und da ist schließlich das Gericht als Synchronisationsinstanz. In Wirklichkeit ist alles natürlich noch viel komplizierter …
Die Geschichte von Herrn Z. wird aus zwei entgegengesetzten Blickwinkeln erzählt. Z. hat nichts getan. Sagt die Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft ist anderer Ansicht.

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Nicht das Ende

Ein erster Exkurs: Natürlich muss es nichts heißen, dass die Staatsanwaltschaft in einem Angeklagten den Täter sieht. Er ist kein Täter, solange seine Schuld nicht erwiesen – also von einem Gericht ausgeurteilt wurde, und selbst dann sind Folge-Instanzen möglich. Ein Urteil muss nicht das Ende sein. Dass eine Verteidigung ihren Mandanten als unschuldig sieht, ist solange richtig, bis ein Gericht… siehe oben.

Alles, was Recht ist

Opfer haben Rechte. Mutmaßliche Täter auch. Und wie ist es mit Berichterstattern? Der Prozess um Herrn Z. ist einer, der Staub aufzuwirbeln in der Lage ist. Man sieht das am ersten Verhandlungstag. Sie sind alle gekommen. Alle sind auf der Suche nach der großen Geschichte. Dem Schreiber dieses Textes ist dasselbe zu unterstellen. Natürlich ist man immer auf der Suche. Die Geschichte von Herrn Z. bietet – quasi auf dem Silbertablett – alle Zutaten für das große Volkstheater.
Strafverhandlung gegen einen 58-Jährigen […] wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in 132 Fällen, davon in 64 Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes, in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes sowie wegen Freiheitsberaubung.
Laut Staatsanwaltschaft ist der Angeklagte Mitbegründer und selbsternannter „Prophet“ einer […] Glaubensgemeinschaft […]. Mitglied dieser Gemeinschaft soll auch die im Dezember 1994 geborene Geschädigte (durch Rechtsanwalt vertretene Nebenklägerin) gewesen sein, die um das Jahr 2004 mit ihrer Familie der Gemeinschaft beigetreten sein soll. Mit der Geschädigten soll der Angeklagte in der Zeit vom 7. Dezember 2006 bis zum 21. Oktober 2020 […] unter anderem in insgesamt 132 Fällen den Beischlaf vollzogen beziehungsweise (ähnliche) sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen haben. In 65 dieser Fälle soll sie unter 14 Jahre alt gewesen sein.
Zum Hauptverhandlungstermin am 18. Juni ist ein Polizeibeamter geladen, an den Fortsetzungsterminen sind jeweils bis zum 23. Juli zahlreiche Zeugen geladen.“

Eine Warnung

So liest sich der Text, mit dem die Presse zum Prozess geladen wurde. Einen Tag, bevor sich der Vorhang zur ersten Szene hebt, trifft ein „Presserechtliches Informations- und Warnschreiben“ ein.
Voilà: Gegen unseren Mandanten beginnt in Kürze vor dem Landgericht Kleve ein Strafverfahren wegen des – von ihm bestritten – Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs und der Freiheitsberaubung. Grund unserer Mandatierung ist, dass Sie zu diesem Fall in der Vergangenheit berichtet haben. Da es möglich ist, dass Sie beabsichtigen, weiterhin über dieses Verfahren zu berichten, weisen wir Sie hiermit vorbeugend auf die Rechte unseres Mandanten sowie Ihre presserechtlichen Sorgfaltspflichten hin [gut, dass das mal jemand macht! Anm. des Redakteurs]. Daraus ergibt sich einerseits, dass Sie unseren Mandanten nicht durch (abgekürzte) Namensnennung oder andersartig erkennbar machen dürfen. Daraus ergibt sich andererseits, dass Sie im Zuge Ihrer journalistischen Sorgfaltspflichten vor einer Berichterstattung jeweils verpflichtet sind, unseren Mandanten anzuhören, eine Stellungnahme einzuholen und diese in Ihren Bericht einfließen zu lassen.“

Schon vorbei?

Sehr geehrte Leser: Sollten Sie an der Erzählung über Herrn Z. interessiert sein, tut es uns Leid. Wir müssen an dieser Stelle auf die Kanzlei Höcker in Köln verweisen. Vielleicht da mal anrufen und nachfragen. Andererseits: Das Schreiben der Kanzlei enthält ja bereits die Stellungnahme von Herrn Z.: Er bestreitet alle Vorwürfe. Na bitte. Die Höcker-Warnung: 13 Seiten, nach deren Lektüre man geneigt ist, die Chefredaktion anzurufen und um Entbindung von der Prozess-Berichterstattung nachzusuchen.

Identifizierbare Berichterstattung

Kann das sein? Man geht in sich – kommt heraus und sagt: „Nein! Das kann nicht sein.“ Die Kanzlei weist ausdrücklich darauf hin, dass wir unserem Mandanten im Falle einer indentifizierbaren Berichterstattung empfehlen werden, gegen diese presserechtlich auch durch die Geltendmachung von Geldentschädigungsansprüchen vorzugehen.

Ebenfalls aus dem Schreiben der Kanzlei Höcker: Zum Zwecke der ausgewogenen Berichterstattung muss der Journalist den Betroffenen insbesondere mit allen Einzelheiten der geplanten Berichterstattung konfrontieren und ihm Gelegenheit zu einer dezidierten Stellungnahme geben. Notwendig ist dabei ein ernsthaftes Bemühen um eine Stellungnahme des Betroffenen. Hierfür ist ein erfolgloser Versuch der telefonischen Kontaktaufnahme nicht ausreichend. Erforderlich ist vielmehr eine schriftliche Kontaktaufnahme mit der Aufforderung zur Stellungnahme. Von der Pflicht zur Einholung einer Stellungnahme sind die Medien auch dann nicht befreit, wenn sie erwarten, keine weitere Aufklärung durch die Stellungnahme des Betroffenen erlangen zu können.

Gestatten: Frost

Was, bitte schön, ist eine „identifizierbare Berichterstattung“? Wahrscheinlich ist eine Berichterstattung gemeint, anhand derer der Mandant identifizierbar wäre. Das allerdings müsste dann anders formuliert werden. Presse berichtet in der Regel immer identifizierbar: Sehr geehrte Damen und Herrn, mein Name ist Frost, Heiner Frost. Der Name Ihres Mandanten und seine Nationalität sind für mich uninteressant. Ach ja – die Kanzlei schreibt noch Folgendes: Im Fall einer Berichterstattung wären Sie verpflichtet unseren Mandanten derart zu anonymisieren, dass er auch vom engsten Freundes- und Bekanntenkreis nicht zu erkennen wäre. What???? Engste Freund dürften ohnehin wissen, was los ist mit Herrn Z. – sie wären sonst keine engen Freunde. Ja, ja: Alles ist im Konjunktiv verfasst. „… nicht zu erkennen wäre.“ Aber bitte: Wie wär‘s, wenn wir aus Herrn Z. eine Frau machten – brunette vielleicht, ohne Bart und mit einem Ausweis, der nicht von deutschen Behörden ausgestellt wurde? Frau Z. wäre – sagen wir – spirituell aufgeladen. Ist es so recht/Recht?

Anträge

Die Anwälte von Frau Z. bieten gleich am ersten Tag mal ein bisschen was auf. Alles bestens. Teil der Jobbeschreibung. Der gesamte Prozess, fordern Sie, müsse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Das Gericht spricht sich gegen den Antrag aus, kündigt allerdings an, dass „große Teile“ des Prozesses wohl unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden werden. Dann erst darf die Staatsanwaltschaft sich dem Verlesen der Anklage widmen. (Siehe oben.) Liebe Leser: Bitte alle männlichen Formen beim nochmaligen Lesen durch weibliche ersetzen. Das kann natürlich zu Ärger an anderen Fronten führen. Vielleicht lebt irgendwo in einer Ecke der Republik eine Frau Z. – spirituell aufgeladen, brunette und ohne Vollbart. Sie ist nicht gemeint.

Opening Statements

Die Verteidiger von Z. (wir lassen fortan eine geschlechtliche Einordnung weg) holen zu „Opening-Statements“ aus. Die Staatsanwaltschaft, erfährt man, hat liederlich ermittelt – hat beispielsweise der einzigen Belastungszeugin Akteneinsicht gewährt. Diese einzige Zeugin sei, heißt es im Opening-Statement der Verteidigung, schizophren. Darf man das jetzt schreiben oder wird morgen ein Schreiben der Staatsanwaltschaft, respektive der Nebenklagevertretung eintreffen? Mann muss gelassen bleiben und abwarten. Die Verteidigung immerhin scheint einiges behaupten zu dürfen und zitiert aus einer Nachricht, die von der Belastungszeugin verfasst worden sein soll: „Wahrscheinlich bringe ich euch allen nur Unglück. Vielleicht bin ich schizophren.“ (Der Wortlaut ist ungefähr.)

Entkräftung

A. – der einzige Belastungsmensch – rückt ins Zentrum der Verteidigungsstrategie. Entkräftet man die Glaubwürdigkeit der zentralen Belastungsaussage, muss die Anklage zusammenbrechen. So würde man selbst es ja auch anstellen.
Zurück zu Z.. Die Presse hat zu Worten gefunden: Prophet. Na bitte: man hat ja schon von ähnlichen Zusammenhängen gelesen. Obacht! Nicht, dass sich jetzt andere Kanzleien einschalten. Von einem Orden wird erzählt: Transformanten. Sitz: im benachbarten Ausland. (Es gibt ja mehrere Nachbarn.) Man spürt ein eigenartiges Gefühl in der Magengrube. Darf man‘s schreiben? Klar. Ist ja die eigene Magengrube. Der Orden, hört man in einem der „Opening-Statements“ (Eröffnungserklärung hätte es ja auch getan), hat Tabus. Eines davon: Missbrauch von Minderjährigen. Unsichtbare Schlussfolgerung: Wenn jemand sich Prophet nennt, wird dieser Mensch nicht gegen Tabus des eigenen Ordens verstoßen. Wieder meldet sich die Magengrube. Nur so ein dumpfes Grummeln. Z. jedenfalls – es sei nochmals und ausdrücklich betont – bestreitet alle von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfe – in Klammern: alle – und muss bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig gelten, was auch gut so ist.

Der Prophet im eigenen Land

Es wird freilich noch ein paar Tage dauern, bis die Vorwürfe erwiesen oder aber entkräftet sind. Z. wird damit leben müssen und wissen: Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande. Zusatz: und manchmal auch im Nachbarland. Es bleibt abzuwarten, ob die Kanzlei Höcker diesen Text klaglos hinnehmen wird. (Fortsetzung folgt.)

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