Behalte mich in guter Erinnerung

Herr Z. hat ein Abschiedsvideo erstellt. Mit dem Handy. Es ist an die Frau gerichtet, mit der er die letzten 20 Jahre befreundet war. Z. spricht in die Kamera …:

Das Ende einer Streitigkeit

„Danke für die letzten 20 Jahre. Ich schaffe das alles nicht mehr. Da bin ich lieber tot als hier lebendig in der Hölle. Ich wünsche dir, dass du glücklich bist. Was mich angeht, hast du nichts zu tun. Kümmere dich nicht um meine Beerdigung. Vielleicht hältst du mich in guter Erinnerung.“ Das Video ist länger, aber man hat nie Steno gelernt. Man kann nicht in den Gerichtssaal rufen: „Bitte noch mal von vorn und bitte in mitschreibbaren Häppchen.“ „Vielleicht behältst du mich in guter Erinnerung.“ Z.s letzter Satz. Man braucht keine Erinnerung. Z. sitzt auf der Anklagebank. Sein Blick geht bodenwärts. Der Prozess: das Ende einer Streitigkeit unter Nachbarn. Eine deutsche Geschichte? Vielleicht.

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Strafverhandlung gegen einen 61-jährigen Deutschen aus Geldern wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte am 22.02.2022 in Bedburg-Hau bei dem Nachbarn (81) seiner früheren Wohnanschrift, unter der noch seine ehemalige Lebensgefährtin wohnt, in den frühen Morgenstunden geklingelt haben, nachdem dessen Frau die Wohnung verlassen hatte. Er soll ihn dann mit einem Messer mit einer etwa 20cm langen Klinge versucht haben, die Kehle durchzuschneiden. Dabei brachte er ihm tiefe Schnitte bei, durch welche unter anderem zahlreiche Blutgefäße verletzt wurden, wodurch der Geschädigte stark zu bluten begann und zu Boden fiel.

Man wirft Herrn Z. also vor, dass er seinen Nachbarn umbringen wollte. Mit einem Messer hat er ihn angegriffen und Luft- und Speiseröhre aufgeschlitzt. Dann ist er gegangen. Wollte mit dem Zug zurück nach Kevelaer. Dort hat man ihn verhaftet – nur kurze Zeit nach der Tat. Ein Beamte, der Z. ins Krankenhaus begleitete (auch Z. hatte Schnittwunden), soll Z. in einer „spontanen Äußerung“ gesagt haben, er wolle sich umbringen. Aber wenn er gehe, dann wolle er den O. mitnehmen. Hat der Beamte Z. belehrt? Nein. Herr O. – das Opfer: ein 81-Jähriger in einem längst beschwerlich gewordenen Alltag. Herr Z.: 61 Jahre alt und seinerseits nicht wirklich gesund. Diabetes, verschiedene Gelenkentzündungen. Elf Medikamente begleiten ihn täglich. Er kann sie nicht alle aufzählen. Herr Z. : Sozialhilfeempfänger mit Wohnsitz in Kevelaer. Aber da fängt es schon an. Man hat ihm Sozialbetrug vorgeworfen. Eigentlich lebe er bei seiner Freundin in Bedburg-Hau, ohne dort gemeldet zu sein. Herr O. ist Z. s Nachbar in eben jenem Haus, in dem Z.s Freundin wohnt. Z. macht O. dafür verantwortlich, dass er „keine Wohnung und keine Frau“ mehr hat. Z. fährt am 22. 2. 22. (andere heiraten an einem solchen Datum) von Kevelaer aus mit der Bahn nach Bedburg-Hau.

Bis zur Wirbelsäule

Er will der Frau, mit er 20 Jahre befreundet war und die ihn verlassen hat, weil sie Abstand brauchte, einen E-Scooter und ein Handy zurückbringen. Danach will er Herrn O. besuchen – den gefühlten Verursacher seines Untergangs. Im Rucksack hat Z. ein Messer. Er wird es einsetzen und O. so schwer verletzen, dass der noch am selben Tag notoperiert werden muss. O.s Hals: Bis zur Wirbelsäule aufgetrennt. Ein Wunder eigentlich, dass O. überlebt hat. O. vebringt Monate im Krankenhaus und wird danach – es klingt komisch für einen Mann von 81 Jahren – nie mehr der „Alte“ sein. O. – ein Mann geplagt von Alpträumen. Ein Mann mit extremen Schluckbeschwerden. Ein Mann in Angst. Im Zeugenstand versucht er, Herr der Gefühle – seiner Gefühle – zu bleiben. Es gelingt nicht. Wie denn auch? Immer wieder bricht sich ein Schluchzen Bahn. O. weint in hoher Lage. Z. hat ihn angegriffen.

Eine Eingebung

„Irgendwann hatte ich eine Eingebung vom lieben Gott: Ich habe mich tot gestellt.“ Das ist der Punkt, an dem zum ersten Mal die Dämme brechen. „Ich lag schon am Boden. Da hat der Z. mir ins Gesicht getreten und ich habe gedacht, wenn ich jetzt reagiere, dann merkt der, dass ich nicht tot bin. Und dann ist es vorbei.“ O. stellt sich tot. Z. verlässt die Wohnung. O. schafft es – man kann sich das angesichts seiner Verletzungen kaum vorstellen – aus der Wohnung und aus dem Haus. Ein Nachbar wird auf ihn aufmerksam, bringt O. in stabile Seitenlage, „verbindet“ den offenen Hals mit einem T-Shirt aus seinem Auto, holt eine Decke aus O.s offen stehender Wohnung, deckt den Mann zu, geht nochmals in die Wohnung, holt ein Kissen, bettet O.s Kopf. „Der hat die ganze Zeit einen Namen gesagt“, sagt der Nachbar. „Ich habe erst gedacht, dass sei sein eigener Name, aber der stand nicht auf dem Klingelschild.“ Irgendwann begreift der Nachbar, dass O. den Täter benennt. Am Ende der Vernehmung sagt der Vorsitzende:

Angepinkelt

„Vielen Dank. Womöglich würde Herr O. ohne Sie nicht mehr leben.“ O.s Frau: Mit dem Hund unterwegs. Der Hund: ein Dackel, den O. und seine Frau in einem ausländischen Tierheim vor dem Tod bewahrt haben. Der Hund – das erzählt Z.s ehemalige Freundin, habe immerzu gebellt und ihr vor der Tür stehendes Motorrad angepinkelt. O.s Frau habe morgens – glaubt man zu verstehen [es gibt ja kein Mikrofon am Zeugentisch] – die Laken ausgeschüttelt. O. wohnt über Z.s Freundin. Frau O. sagt aus, schon am 10. April 2021 habe der Z. ihren Mann mit einem Baseballschläger bedroht: „Ich werde Sie und Ihren Hund erschlagen“, soll Z. gesagt haben. Ein Baseballschläger wurde nie gefunden. Z.s Freundin sagt, es habe sich um eine Geschenkpapierrolle gehandelt.
Als die Polizei eintrifft, soll O. berichtet haben, der Z. wohne im Haus, sei aber nicht dort gemeldet. Es folgt: eine Anzeige gegen Z. wegen Sozialbetrugs. Die Anzeige hat keinen Erfolg. Z.s Freundin allerdings fühlt sich zunehmend beobachtet und beendet die Beziehung zu ihrem Freund. Z. sieht O. als den Verursacher des Beziehungsabbruchs. Am Tattag, sagt O., habe Z. geklingelt und gleich den Fuß zwischen Wohnungstür und – angel gestellt. „Ich wollte nur Danke sagen dafür, dass ich keine Wohnung und keine Frau mehr habe.“

Ich wollte nur reden

Z. lässt gleich zu Anfang über seine Verteidigung eine Einlassung verlesen. Er hat nie die Absicht gehabt, O. zu verletzen, geschweige denn, zu töten. Er habe nur reden wollen. „Und dafür nimmt man dann ein Messer mit“, wird aus dem Zuschauerraum kommentiert. O.s Verletzungen seien das Resultat eines Handgemenges, lässt Z. erklären. Er, Z., habe nach einem Sturz auf O. gelegen. Der habe das Messer abzuwehren versucht. Dann habe er plötzlich keinen Abwehrdruck mehr entgegengesetzt. Das Messer sei dann an O.s Hals geraten, denn er, Z., habe in einem Abwehrreflex in die Gegenrichtung gedrückt.
Die forensische Gutachterin hält diese Version für „nicht plausibel“. Eine Verletzung wie die von Herrn O. sei so nicht zu erklären. Für die Verteidigung ist es wichtig, dass die Gutachterin nicht von „unmöglich“ gesprochen hat. Sie hat lediglich gesagt, bei den vorliegenden Verletzungen sei Z.s Version „nicht plausibel“. Der psychiatrische Gutachter – er hat Z. nicht explorieren dürfen – muss nach Aktenlage „urteilen“. Er sieht keine eingeschränkte und schon gar keine aufgehobene Schuld- und Steuerungsfähigkeit. Intelligenzminderung? Nein. Z. wird, wenn das Gericht ihn für schuldig befindet, als voll schuldfähiger Mann verurteilt werden.

Vorwürfe erwiesen

Der Staatsanwalt sieht einen versuchten Mord. Er sieht Heimtücke auf Seiten des Angeklagten. Er sieht eine Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. Dass Z. die Wohnung verlassen hat: kein Rücktritt von der Tat, denn der Z. habe geglaubt „der ist hin“. Zehn Jahre und sechs Monate beantragt der Staatsanwalt. Die Nebenklagevertreterin sind es auch so. Natürlich war das ein versuchter Mord. Natürlich war das Opfer arg- und wehrlos.

Freispruch?

Z.s Verteidigerduo sieht keinen Mordversuch. Das Opfer: nicht arg- und wehrlos. Der Mandant habe es geschildert. Z. habe O. nicht ins Gesicht getreten. O. habe gesagt, der Z. habe das Messer mit der rechten Hand geführt, „aber unser Mandant ist Linkshänder“. Mordversuch? Auf keinen Fall. In Bezug auf die angeklagten Punkte: Freispruch. Sollte das Gericht zu einer Verurteilung kommen, stelle man das Strafmaß „ins wohlwollende Ermessen des Gerichts“.
Letzte Worte: Z. tut es leid. „Es war nicht meine Absicht. Ich wollte niemanden verletzen.“ Er sinkt zurück in Starre.
Nach den Plädoyers: 45 Minuten bis zur Urteilsverkündung. „Warum schalten die eigentlich die Mikrofone nicht ein?“, fragt eine Dame aus dem Zuschauerraum. Ja – das ist eine dieser Fragen. Man möchte hinzufügen: Warum steht ausgerechnet am Zeugentisch kein Mikrofon?
Am Ende wird Z. zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Versuchter Mord in Tateinheit mit gefährliche Körperverletzung. Das Gericht hat seine Version der Tat nicht geglaubt. Das Urteil wird O.s Leben nicht leichter machen, aber er wird beruhigt sein, dass man ihm geglaubt hat. Wann er wieder normal wird essen können und ohne Albträume leben? Wer will das sagen? Heiner Frost

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