
Neue Perspektiven auf „Die Front am Niederrhein“
Alexander Berkel und Ortwin Nißing stellen ihr neues Buch vor / Einzelschicksale ein wichtiger Aspekt
Trotz seiner Anstellung in der Redaktion Zeitgeschichte des ZDF ist Alexander Berkel seiner Heimat bis heute treu geblieben. Das zeigt sich vor allem im Schaffen des gebürtigen Bergerfurthers und ehemaligen Mitarbeiters des Weseler Stadtarchivs: Nach seinem ersten Buch „Krieg vor der eigenen Haustür“, 1994 erschienen und 2004 neu aufgelegt, rückte vor elf Jahren in „Schanzen – warten – sterben“ der Erste Weltkriegs in den Mittelpunkt. Fünf Jahre her ist der Film zur Luftlandung am Niederrhein. Der Kontakt zu Co-Autor Ortwin Nißing besteht bereits seit der Neuauflage 2004, die er damals um einen neuen Bericht erweiterte – für Berkel war klar, ihn auch in das neue Projekt einzubinden. „Ich wusste, der Mann hat auch Ahnung“, sagt Berkel. Denn Nißing ist nicht nur Leiter des Hamminkelner Ordnungsamts, sondern auch Ansprechpartner für das Thema Zweiter Weltkrieg. Neben Rechercheaufträgen übernahm er in der Vergangenheit auch viele „Battlefield-Touren“ für Reisegruppen aus England und Amerika. Das brachte ihm Kontakte in alle Welt ein. „Die konnte ich auch für meine Arbeit anzapfen“, sagt Nißing. Viele seiner Interviews mit ehemaligen Kriegsteilnehmern finden sich heute im neuen Buch wieder.
Neue Fragen
Dass es nun thematisch mit dem Zweiten Weltkrieg weitergeht, hat unterschiedliche Gründe: „Ich hatte das Gefühl, nach 20 Jahren das Thema wieder anpacken zu können. Denn Geschichte ist nie zu Ende erzählt“, erklärt Alexander Berkel. Es gebe vor allem in den Archiven – im Gegensatz zum schrumpfenden und weitgehend abgedeckten Feld der Zeitzeugen – immer wieder neue Quellen, neue Erkenntnisse und dadurch neue Fragen zu entdecken. Die beiden Autoren wollen sich der Aufgabe stellen, auf diese Fragen Antworten zu finden. Vor allem als Mitglieder einer „Brückengeneration“. Der 61-jährige Alexander Berkel erläutert: „Unsere Eltern haben uns viel vom Krieg erzählt. Vielen steckte er noch in den Köpfen und Knochen. Da ist man in einer besonderen Situation.“ Das habe damals sein Interesse an historischen Forschungen befeuert. „Man möchte dann einfach mehr wissen.“
Heute ist er sich zudem einem doppelten Privileg bewusst: „Wir mussten den Krieg nicht miterleben, haben aber eine Ahnung davon bekommen, wie schrecklich er ist.“ Daraus leiten er und Ortwin Nißing einen weiteren wichtigen Auftrag für sich ab: Statt ihr gesammeltes Wissen auf einer Festplatte versauern zu lassen, wollen sie es systematisieren, schriftlich festhalten und an die nächsten Generationen weitergeben. „Der 80. Jahrestag ist, glaube ich, ein guter Anlass dafür“, sagt Berkel. Zumal es viel Halb- und Nichtwissen gebe. „Es wird viel von Gedenken oder Erinnerungskultur gesprochen. Dann sollte man auch wissen, an was erinnert wird. Es braucht Faktenwissen, sonst ist es meiner Meinung nach sinnentleert. Gedenken und Erinnern ist ohne Wissen nicht möglich.“
Die Geschichten der Gefallenen
„Die Front am Niederrhein“ schafft solches Wissen. Wer weniger oder gar nicht in der Materie steckt, kann einen Überblick über die Ereignisse in der Chronik gewinnen, „ausgehend von der Luftlandung bei Arnhem im September 1944 bis zum April 1945, als Emmerich erobert war.“ Den Großteil des Buches nehmen die Autoren jedoch neue Blickwinkel auf verschiedene Einzelaspekte ein. Als große Hilfe stellten sich dabei die modernen, digitalen und damit weltweiten Recherchemöglichkeiten heraus, die vor allem innerhalb der Archive Zugang zu unverbrauchten Schätzen ermöglicht hätten. „Auch die Dokumente in den Archiven erzählen Geschichten“, betont Alexander Berkel, der unter anderem auf die Missing Air Crew Reports verweist. „Hier wurden richtige Verhöre geführt.“
Man sieht: Immer wieder dreht es sich um Menschen und ihre Schicksale. „Plötzlich kommt einem das Geschehen ganz nahe.“ Bestes Beispiel dafür sind die zehn im Buch beschriebenen Einzelschicksale gefallener alliierter Soldaten. „Meist erzählen nur die Überlebenden, dass es gerade noch gut gegangen ist.“ Alexander Berkel war es ein Anliegen, auch die Toten sprechen zu lassen. „Hier erzählen wir von Menschen, wo es nicht gut ging, deren Leben hier abrupt endeten. Zu vielen Gefallenen ist viel mehr bekannt als nur ein Name auf einem gleichförmigen Grabstein.“ Daran zu erinnern und Namen zu nennen, mache die Thematik begreifbar. „Auch das ist Ziel des Buchs“, sagt Berkel.
Diese Sicht teilt auch Doris Rulofs-Terfurth, die das Buch Korrektur las: „Die persönlichen Lebensdaten und Hintergründe heben die Personen aus der Anonymität heraus, das macht die Sache viel persönlicher. So bekommt die Geschichte eine ganz andere Aussagekraft.“ Besonders überraschend für sie: die Deportation von Niederländern, direkt aus den heimischen Kirchen hinein in die deutschen Zwangsarbeitslager.
Das zeigt den grenzüberschreitenden Charakter der Geschehnisse, den auch Alexander Berkel hervorhebt: „Die Geschichte am Niederrhein kann man nicht nur lokal betrachten. Man muss sie regional sehen.“ Er selbst tut das zum Beispiel in seinem Artikel über die Sanitätsversorgung aller Armeen. Für die Alliierten habe sie über den gesamten linken Niederrhein bis nach Nijmegen in die Niederlande gereicht. „Auf deutscher Seite reichte die Infrastruktur bis tief ins westliche Münsterland hinein.“
Der Umgang mit den Toten
Spannende Einblicke versprechen auch die Kapitel zu den Bestattungen der Gefallenen. Hier zeigt sich, wie unterschiedlich der Umgang mit den Toten war. Wie die Umbettungsprotokolle zeigen würden, seien laut Berkel zum Beispiel viele der britischen Soldaten ebendort bestattet worden, wo sie gefallen seien. Ein Beispiel gibt es direkt am Ort des Pressegesprächs: „Hier am Grenzweg in Mehrhoog sind zahlreiche britische Fallschirmjäger ums Leben gekommen und in Feldgräbern bestattet worden.“ Erst ab 1947 erfolgte die Umbettung auf den Reichswaldfriedhof bei Kleve. Aber warum erst so spät? „Das Parlament hat diskutiert, ob man die eigenen Gefallenen in deutschem Boden bestattet haben möchte. Viele Angehörige waren dagegen.“ Doch bereits im Ersten Weltkrieg hatte man mit der Tradition einer Bestattung auf Feindesland begonnen.
Auf kanadischer und amerikanischer Seite habe das anders ausgesehen: „Sie holten sich ihre Gefallenen nach dem Ende der Gefechte zurück“, sagt Alexander Berkel. Kanadier fanden somit in Groesbeek mit Blick auf das deutsche Schlachtfeld ihre Ruhestätte, Amerikaner im niederländischen Margraten.
Die Kriegstoten auf deutscher Seite hat sich Ortwin Nißing vorgenommen – und ist dabei auf einige Hindernisse gestoßen. So habe sich die Recherche der Zahlen und Namen aufgrund der schlechten Datenlage als schwierig erwiesen. „Die hohe Zahl der unbekannten Kriegstoten rührt daher, dass damals nachlässig gearbeitet wurde“, sagt der 60-Jährige. Bei den Amerikanern stellte Alexander Berkel das genaue Gegenteil fest. „Sie haben mit fast forensischen Methoden gearbeitet.“ Dazu gehörten auch Zahnabgleiche.
Wie viel Respekt und Würde den Gefallenen zuteilwurde, zeigt sich darüber hinaus nicht nur im Umstand, dass die Toten während des Transports mit Matratzenschonern aus Baumwolle verhüllt wurden, sondern auch darin, dass fast die Hälfte der gefallenen amerikanischen Soldaten auf Wunsch ihrer Angehörigen in die USA zurückgeführt wurden – auf Kosten der Regierung. „Das hat man aus sozialen Gründen gemacht. Sonst hätten nur die Reichen ihre Toten zurückholen können“, erläutert Berkel. Ein Ansatz, den es bei den Kanadiern und Briten nicht gegeben habe.
Neue Inhalte können die beiden Autoren aber nicht nur in Textform, sondern auch im Bildformat präsentieren. Zu den Highlights gehören Fotos des vor 70 Jahren im Indochinakrieg durch eine Mine zu Tode gekommenen amerikanischen Kriegsfotografen Robert Capa. Alexander Berkel und Ortwin Nißing konnten somit als einige der ersten vom Anfang 2025 ausgelaufenen Urheberrecht Gebrauch machen. Ein willkommener Vorteil, denn für ihr Buch sind die beiden in Vorkasse gegangen: 500 Exemplare gehen für den Anfang in den Buchhandel.
„1945 – Die Front am Niederrhein“ gibt es für 22 Euro unter anderem in den Buchhandlungen in Wesel und Rees und in der Dombuchhandlung in Xanten.Alexander Berkel (l.) und Ortwin Nißing (r.) halten mit „1945 – Die Front am Niederrhein“ das Ergebnis von 20 Jahren Recherchearbeit in den Händen. NN-Foto: Thomas Langer
