Seelen ohne einen Ankerplatz
Manche Menschen möchten manchmal allein sein, aber niemand wünscht sich Einsamkeit
NIEDERRHEIN. Es gibt Themen, die keine Ortsmarke brauchen. Sie sind universell. Es gibt Themen, die keine bestimmte Zeit brauchen, denn sie sind durchgehend vorhanden. Es gibt Menschen, die sich wünschen, sie wären allein, aber niemand wünscht sich, einsam zu sein. Einsamkeit ist eine Wüste in der Seele. Alleinsein hat eine Resttemperatur – Einsamkeit ist eine gefrorene Seele ....
Jo Verhoeven ist Opferschützer bei der Kreispolizeibehörde Kleve. „Man muss unterscheiden: Es gibt das Alleinsein und es gibt Einsamkeit“, sagt er. Wenn es einen Unterschied gibt, muss es eine Trennlinie geben, denke ich. Vielleicht ist Alleinsein ein definierbarer Status: Jemand ist allein unterwegs, allein im Raum. Das lässt sich messen, prüfen, nachzählen. Einsamkeit ist anders beschaffen. Einsamkeit, denke ich, hat etwas mit dem Nichtvorhandensein von Bindungen zu tun. Jemand, der allein ist, muss nicht einsam sein und – noch wichtiger: Jemand, der einsam ist, muss nicht allein sein. Gespräch mit einem Psychiater. Dr. Jack Kreutz sagt: „Einsamkeit ist keine Diagnose.“ Endstation? Vier Worte als Gesprächsbilanz? „Einsamkeit ist keine Diagnose, aber in der Folge kommt es häufig zu Depressionen. Eine weitere Folge können Angststörungen oder Suizidgedanken sein.“ Ist Einsamkeit etwas, das alten Menschen passiert? Kreutz denkt, dass es nicht so ist. „Natürlich: Wenn ein Paar jahrzehntelang zusammen war und dann stirbt der Partner oder die Partnerin, kann es passieren, dass die Zurückbleibenden eine große Einsamkeit verspüren. Das muss aber nicht so sein. Es hängt sehr mit dem sozialen Umfeld zusammen.“ Kreutz sagt auch: „Niemand ist auf Dauer als Einzelwesen überlebensfähig.“ Das Internet bietet Scheingesellschaft – nichts, was auf Dauer Halt geben kann, auch wenn mehr und mehr Jugendliche KI als Gesprächspartner nutzen.
Einsamkeit ist ein Zustand, den auch immer mehr Jugendliche erleben. Kreutz: „Wenn jemand zum Studium in eine andere Stadt zieht und damit auch eine völlig neue soziale Umgebung erlebt, kann es auch zu Vereinsamung kommen.“ Das hänge, so Kreutz, auch von der inneren Disposition ab. „Wenn jemand eher schüchtern ist und Schwierigkeit hat, Kontakt zu anderen Menschen aufzubauen, kann das eine Vereinsamung begünstigen.“ Die möglichen Folgen: Depressionen und Verwahrlosung. Viele junge Menschen mögen virtuos im Umgang mit den sozialen Medien sein – aber Likes im Internet sind kein Ersatz für zwischenmenschliche Interaktion und nur allzu oft entpuppen sich die sozialen Medien als antisozial. Um Menschen vor der Vereinsamung zu bewahren, ist es vor allem wichtig, im täglichen Umgang mit anderen Menschen genau hinzusehen und hinzuhören.
Obwohl Einsamkeit nicht an Zeiten im Jahr gebunden ist, scheint das Thema vor allem in der „dunklen Jahreszeit“ mehr als sonst aufzutauchen. Ein Weihnachtsfest allein (ohne Familie oder Freunde) zu verbringen, kommt einem sozialen Albtraum nah. In einigen Kommunen am Niederrhein sind es die Kirchen, die in diesen Tagen besondere Angebote für einsame Menschen schaffen. Die Kirchengemeinde und Propstei St. Mariä Himmelfahrt Kleve verschickte etwa kürzlich eine Einladung: „Am Heiligabend bieten wir trauernden Menschen, die ansonsten allein wären, an, sich mit anderen Betroffenen im Pfarrzentrum in einem geschützten Kreis zu treffen. Konfession oder Religion spielen dabei keine Rolle. Wir freuen uns auf Sie!“ Ein Signal wird spürbar: „Wir freuen uns auf Sie.“ Mit „Singen und Postkartenschreiben gegen Einsamkeit“ startete auch die Stabsstelle Einsamkeit in der Staatskanzlei NRW jüngst eine besondere Weihnachtsaktion, die Menschen im ganzen Land miteinander verbinden soll. Es geht darum, für Menschen zu singen – in den Heimen, in den Krankenhäusern. Es geht um eine nette Geste: Eine Grußkarte zum Fest und freundliche Worte, um einsamen Menschen zu zeigen, dass sie nicht vergessen werden. Und noch eine schöne Aktion: In Straelen haben alle Fünftklässer des Städtischen Gymnasiums Briefe für die Bewohner einer Caritas-Einrichtung verfasst, um ihnen eine Freude zu bereiten. Und man kann auch selbst aktiv werden: In Kalkar wird eine neue Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen, um Depression und Einsamkeit gemeinsam zu bewältigen. Gegen die Einsamkeit ankämpfen – geht von beiden Seiten.
Einsamkeit kann aber auch Ohnmacht bedeuten. Die Kraft reicht nicht, das Angebot anzunehmen. Zu groß die Scheu. Zu mächtig Schmerz und Scham. Die Einsamkeit ist zur Falle geworden. Eingehüllt in einen dichten Nebel treiben Boote aneinander vorbei: Jedes Boot eine Seele. Einsamkeit ist das ganze Jahr über ein Thema, aber die Weihnachtszeit wirkt wie ein Einsamkeitsverstärker. So sieht es auch Bärbel Vick, die Leiterin der Klosterpforte in Kleve. „In der Weihnachtszeit entsteht eine Mischung aus Alleinsein und Einsamkeit. Vielen Menschen, die sich einsam fühlen, mangelt es an Ankerplätzen für die Seele.“ Ich denke an Jack Kreutz – an die innere Disposition: Einsamkeit überwinden hat auch mit dem Mut zu tun, sich auf Beziehungen einzulassen und mit der Angst vor Enttäuschungen umzugehen. Bärbel Vick: „Viele von den Menschen, die zu uns kommen, haben schon als Kinder schlimme Erfahrungen gemacht – sind nicht geliebt worden und dadurch vereinsamt.“ Einsamkeit ist ein Vakuum, das sich in der Seele ausbreitet – eine Landschaft in permanenter Dunkelheit. Und dann ist da noch die Geschichte von einer finalen Einsamkeit: Manchmal, erzählt Michael Rübo von der Klever Klosterpforte, meldet sich das Ordnungsamt. Es geht dann um eine Beerdigung. Da ist jemand verstorben, um den niemand trauert. Jemand, der nirgends vermisst wurde. „Niemand muss den letzten Weg allein gehen“, sagt Michael Rübo. Da ist jemand verstorben, um den niemand trauert. Jemand, der nirgends vermisst wurde. Jemand, der keine Lücke hinterlässt. Jemand, der spurlos-tonlos abgereist ist in eine Ewigkeit ohne Gesellschaft. Da wird jemand beigesetzt und niemand kommt, um das Gehen zu betrauern. Man mag nicht folgen in einen solchen Gedankengang.
Man sollte sich hüten, Gedanken wie diese ausschließlich zur Weihnachtszeit zu denken. Einsamkeit ist ein Ganzjahresthema – eines, das vor keinem Alter stehen bleibt. An keinem Ort. Einsamkeit ist vielleicht die Schwester der Verzweiflung. Oder die Mutter. „Einsamkeit ist die schlimmste Form der Armut“ (Mutter Theresa).
Einsamkeit hat viele Bilder. NN-Foto (Archiv): Rüdiger Dehnen