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Josef Gietemann (r.) bedankte sich bei Bürgermeisterin Sabine Anemüller und Siebo Janssen für ihre interessanten Beiträge. Foto: privat
26. Juni 2025 Von NN-Online · Kleve

„Nationalsozialismus als Rankünelehre“

Klever Delegation stellt Buch mit politischer Tiefenschärfe in Viersen vor

KLEVE/VIERSEN. Mit Unterstützung des Interreg-Programms Deutschland-Nederland und der Europäischen Union wurde kürzlich in der Albert-Vigoleis-Thelen-Stadtbibliothek in Viersen das Buch „Nationalsozialismus als Rankünelehre“ vorgestellt. Die Veranstaltung war Teil des grenzüberschreitenden Projekts „Gedenken, Nachdenken, Handeln / Herdenken, Bezinnen, Handelen“, das von der Vereinigung für Kultur und Wohlfahrtspflege (Kleve) sowie der Stichting voor Cultuur en Solidariteit (Nimwegen) getragen wird.

Das Buch enthält ein 1937 verfasstes Essay des niederländischen Intellektuellen Menno ter Braak – mit einem heute kaum noch gebräuchlichen Begriff im Titel: Ranküne, also Hass um des Hasses willen, gespeist aus Groll und Kränkung. Ergänzt wird der Text durch das Vorwort „Mit dem Mut der Verzweiflung“ von Bas Heijne, der ter Braaks Analyse in einen aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang stellt.

Die Vorsitzenden der beiden herausgebenden Vereine, Josef Gietemann und Wilhelm van het Hekke, begrüßten zahlreiche Gäste – darunter auch Viersens Bürgermeisterin Sabine Anemüller. In ihrer Ansprache würdigte sie die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Besonders beeindruckt zeigte sie sich vom zentralen Begriff des Buches: Ranküne. „Ich musste das Wort erst nachschlagen – und bin umso mehr von der Relevanz des Textes berührt“, so Anemüller. Neben ihr war auch Beatrix Wolters, Vorsitzende des Vereins für Heimatpflege Viersen, anwesend.

Die Buchvorstellung wurde von einem facettenreichen Rahmenprogramm begleitet. Thomas B. Schumann vom Verlag Edition Memoria schilderte die Entstehungsgeschichte des Buches, das auf eine bereits 1938 erfolgte Übersetzung durch Albert Vigoleis Thelen zurückgeht. Leo Fiethen zeichnete das Leben des Übersetzers nach, der als Kosmopolit, Antifaschist und Exilautor in Viersen geboren wurde – und heute Namensgeber der Stadtbibliothek ist.

Martin Lersch aus Goch, der Zeichnungen zum Buch beigesteuert hat, trug zentrale Passagen aus ter Braaks Essay vor. Darin analysiert der Autor die emotionale Logik autoritärer Bewegungen: Wie aus Kränkung Hass entsteht – und daraus politische Dynamik. Eine musikalische Einlage lud zum Innehalten und zur Selbstreflexion ein.

Besonders eindrucksvoll war die anschließende Lesung des Klever Historikers Daniel Boumanns, der wesentliche Passagen und Zitate aus ter Braaks Analyse präsentierte, sie mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpfte und zeigte, wie aktuell der Text bis heute ist. Die vorgetragenen Stellen haben es in sich: Ter Braak rechnete mit der Selbsttäuschung demokratisch gesinnter Menschen ab und warnte davor, dass auch Demokratien Ranküne erzeugen können. Das Gleichheitsversprechen demokratischer Systeme könne selbst zur Quelle von Ressentiments werden – wenn es politisch nicht eingelöst, sondern nur in leeren Phrasen formuliert werde.

Im weiteren Verlauf analysierte Siebo Janssen (Historiker, Politikwissenschaftler und Hochschullehrer) in seinem Vortrag „Der neue Nationalpopulismus in Deutschland und Europa“ die Relevanz von ter Braaks Werk für die Gegenwart. Er betonte, dass demokratische Staaten weltweit unter Druck geraten seien – nicht mit einem Paukenschlag, sondern schleichend, wie das Beispiel Viktor Orbáns in Ungarn zeige. Besondere Aufmerksamkeit widmete Janssen dem Aufkommen eines neuen Tech-Faschismus, bei dem Akteure wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg mit ihren Plattformen neue Räume für Hass und Desinformation schafften. „Es ist außerordentlich schwierig, die Tech-Giganten demokratisch zu regulieren“, so Janssen.

In der abschließenden Diskussionsrunde setzten sich die Anwesenden engagiert mit den Thesen des Buches auseinander. Historiker Daniel Boumanns brachte es auf den Punkt: „Die Politik darf keine leeren Phrasen oder falschen Versprechungen machen – das würde die Ranküne nur beschleunigen. Denn genau das war eine zentrale Kritik ter Braaks: dass aus enttäuschten Erwartungen in demokratischen Gesellschaften Hass und Groll entstehen können.“

Boumanns ergänzte: „Ter Braak mahnt uns, unsere eigenen Beweggründe kritisch zu hinterfragen – ob wir wirklich für Gerechtigkeit und Verbesserung streiten oder aus unbewusstem Groll heraus handeln. Diese Frage ist in Zeiten von Social Media, wo Aufmerksamkeit die primäre Währung der Politik geworden ist, aktueller denn je.“ Er zog einen Vergleich zur industriellen Revolution: „Die Digitalisierung mit ihren KI-getriebenen Dynamiken verändert unsere Gesellschaft ebenso grundlegend wie einst die Industrialisierung. Die sozialen Folgen sind immens – auch in politischer Hinsicht.“ Gefühle der Ranküne würden durch Algorithmen und künstliche Intelligenz wie ein Brandbeschleuniger wirken.

Das Fazit des Abends: Menno ter Braaks Text ist keine historische Kuriosität, sondern eine gegenwartsdiagnostische Mahnung – und ein Mittel zur Selbsterkenntnis. Er hält uns den Spiegel vor und konfrontiert uns mit der Frage nach den wahren Beweggründen unseres politischen Handelns. Denn: Das war ter Braaks Überzeugung – gegen Hass hilft kein Appell, sondern nur das Erkennen seiner seelischen und sozialen Wurzeln.

Das Buch „Nationalsozialismus als Rankünelehre“ ist ab sofort im Buchhandel erhältlich.

Josef Gietemann (r.) bedankte sich bei Bürgermeisterin Sabine Anemüller und Siebo Janssen für ihre interessanten Beiträge. Foto: privat

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