
„Das ist Rosinenpickerei“
Hausarzt äußert sein Unverständnis über Ärzte, die bald nur noch Privatpatienten behandeln werden
Umso unverständlicher zeigt sich Matthias Vollmer darüber, dass eine Hausarzt-Praxis mit sechs Allgemeinmedizinern in Kleve-Rindern ihre 3,5 Kassenplätze zum 31. Dezember dieses Jahres aufgeben und ab dem 1. Januar nur noch Privatpatienten und Selbstzahler behandeln wird. Für Vollmer ein Unding. „Ich habe zu keiner Zeit darüber nachgedacht, meinen Kassensitz aufzugeben und nur noch Privatpatienten und Selbstzahler zu behandeln. Ich kann doch meine Patienten nicht aussortieren und zum Beispiel sagen: Die Frau ist Lehrerin und damit privat versichert, die behandle ich weiter, ihren Mann als Vorarbeiter in einer Firma aber nicht mehr, weil er ist ja nur gesetzlich versichert“, sagt Vollmer. Für ihn sei das auch mit dem Ärzte-Ethos nicht wirklich vereinbar.
„Die Patienten sollen im Mittelpunkt stehen. Für die bin ich doch da und habe auch eine Verantwortung ihnen gegenüber“, betont Vollmer. Dabei in Kassen- und Privatpatienten zu unterscheiden (die Kalkarer Praxis behandelt natürlich beide Gruppen von Patienten, Anm. d. Red.), sei ihm nie in den Sinn gekommen. „Für mich gehört dieses zwei-Klassen-System ohnehin abgeschafft“, meint Vollmer und ergänzt: „Als Hausarzt behandle ich aber entweder auch Kassenpatienten oder höre ganz auf. Alles andere ist doch nur Rosinenpickerei.“
Auch das Argument der lästigen Bürokratie lässt der Allgemeinmediziner nicht gelten. „In welchem Beruf gibt es denn keine Bürokratie? Und zudem ist sie bei uns wirklich auszuhalten“, sagt der 68-Jährige. Im Vergleich zu früher habe sich vieles sogar verbessert. „Als Patienten noch mit Scheinen zu uns kamen, dauerte die Abrechnung, wenn sie fällig war, zehn bis 14 Stunden. Heute vielleicht noch zehn bis 15 Minuten, da alles digitalisiert ist. Wenn ich beim Patienten alles aufmerksam dokumentiere, muss ich später nur noch auf einen Knopf drücken und ich habe alles zusammen“, sagt Vollmer. Dass er Privatpatienten besser behandeln könne als Kassenpatienten, sieht der erfahrene Hausarzt aus Kalkar ebenfalls nicht so. Und Notdienste, die er früher öfter in seiner Praxis machen musste, würden heute für einen Hausarzt nur noch vier Mal im Jahr anfallen – allerdings in der kleinen Notdienstpraxis in Kleve. „Die nächtlichen Hausbesuche, die früher etwa bei asthmatischen Anfällen regelmäßig anstanden, fallen heutzutage ebenfalls weg, da die Medikation so viel besser geworden ist“, ergänzt Vollmer.
Trotzdem sieht auch er Verbesserungspotenziale in manchen Bereichen. So kämen Patienten etwa mit einem Herzinfarkt oftmals mit zehn, 15 oder mehr verordneten Präparaten aus dem Krankenhaus nach Hause. „Das ist auch nicht wirklich gut, weil man nur noch schwer die Wechselwirkungen miteinander überblicken kann“, sagt Vollmer. Der Hausarzt müsse den Patienten dann unter Umständen nochmal neu medikamentös einstellen. Auch die hohen Preise der Pharmazie für Medikamente, die neu auf den Markt kommen, prangert Vollmer an. „Manchmal werden Medikamente sogar vom Markt gekommen und kommen ein paar Monate später unter anderem Namen und mit etwas anderen Indikatoren zu höheren Preisen auf den Markt“, berichtet Vollmer.
Ungerecht sei auch, dass Hausärzte die Behandlung von Patienten ab einer bestimmten Summe pro Quartal nur noch zu 20 Prozent von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) bezahlt bekommen würden. „Dadurch überlegt sich jeder niedergelassene Hausarzt natürlich noch einmal mehr, ob er seine Praxis abends noch eine Stunde länger öffnet, um mehr Patienten behandeln zu können, oder ob er lieber Zeit mit seiner Familie verbringt“, sagt Vollmer, der aber auch betont: „Wir Hausärzte verdienen trotzdem noch genug.“
Zeit für Patienten
Sein Sohn Sebastian sieht in der immer schlechter werdenden Hausärzte-Versorgung im Kreis Kleve – beziehungsweise auf dem Land generell – eher ein ganz anderes Problem: „Als Hausarzt möchte ich auch noch Zeit für meine Patienten haben und diese gut behandeln können. Wenn ich aber sehe, das ist ab einer gewissen Anzahl an Patienten nicht mehr gewährleistet, kann ich keine weiteren Patienten mehr aufnehmen – außer Notfälle natürlich. Die behandeln wir selbstverständlich immer.“ Wenn es aber immer weniger Hausärzte gebe – und noch verbliebene Hausärzte ihren Kassensitz aufgeben und nur noch Privatpatienten sowie Selbstzahler behandeln würden, so wie jetzt in Kleve-Rindern geschehen – hätten folglich immer mehr Bürger irgendwann keinen Hausarzt mehr.
Dabei wird der Bedarf an ärztlicher Versorgung keineswegs geringer – und das nicht nur, weil die Bevölkerung im Altersdurchschnitt immer älter wird. „Auch die Jüngeren werden wieder kränker, weil sie sehr viel sitzen, weniger Sport machen und auch nicht immer sehr bewusst leben“, ergänzt Carsten Schäpers, der bei der Hausarztpraxis Vollmer derzeit seine Weiterbildung zum Allgemeinmediziner absolviert. Er kritisiert – ebenso wie Matthias und Sebastian Vollmer – allerdings auch die Bürokratie hinter der Zulassung von Hausärzten mit einem Kassensitz. „Die Leute sind frustriert, weil es viele undurchsichtige Regeln gibt“, sagt Schäpers. Seien diese Hürden aber genommen, sei die Arbeit als Hausarzt zum Beispiel auch um ein Vielfaches schöner als die Arbeit in einem Krankenhaus. „Wir lernen die Menschen kennen, begleiten sie über viele Jahre und bauen einen Draht zu ihnen auf. Das gibt es im Krankenhaus nicht“, betont Matthias Vollmer. Die entgegengebrachte Dankbarkeit der Patienten sei ebenfalls ein nicht zu verachtender Lohn für die erbrachte Arbeit.
Sabrina PetersDer Stand
Im Mittelbereich Kleve, wozu auch Bedburg-Hau und Kalkar gehören, gibt es nach heutigem Stand zwölf freie Kassensitze. Der Versorgungsgrad liegt damit laut der Kassenärztlichen Vereinigung (KVNO) bei 89,7 Prozent. Bis Ende des Jahres werden aber, so Sebastian Vollmer, altersbedingt und aufgrund des Rückzuges der Klever Praxis weitere fünf Kassensitze frei. „Allerdings ist diese Bedarfsberechnung aus den 1980er Jahren“, sagt Carsten Schäpers. Der eigentliche Versorgungsgrad sei in Wahrheit wohl schon jetzt geringer. Im Mittelbereich Geldern (mit Straelen und Kerken) gibt es aktuell acht freie Kassensitze bei einem Versorgungsgrad von 96,8 Prozent. In Kevelaer sind es fünf freie Kassensitze bei einem Versorgungsgrad von 84,5 Prozent. Goch und Weeze kommen auf 7,5 freie Kassensitze bei einem Versorgungsgrad von 87,6 Prozent.
Drei Hausärzte, die ihren Beruf gerne ausüben: Sebastian Vollmer, Matthias Vollmer und Carsten Schäpers NN-Foto: SP

Redakteurin in Xanten, Kalkar, Rheinberg und Alpen sowie Büderich und Ginderich