
Die Quadratur des Kreisens
Jean-Pierre Wils‘ neues Buch „Verzicht und Freiheit“ ist nicht eben leichte, aber notwendige Kost
NIEDERRHEIN. Jean-Pierre Wils hat schlechte Nachrichten. Die Welt: am Kollapskraterrand. Eine Kursänderung: dringend erforderlich. Das Gegenmittel: Wie wär’s mal mit Bescheidenheit? Verzicht vielleicht?
Es bringt ja nichts, den Überbringer der schlechten Nachricht hinzurichten. Vielleicht würde man diesen Satz unterschreiben. Trotzdem ist da gleich dieser Reflex: Soll er’s doch vormachen. Soll er doch schon mal anfangen, die Welt zu retten und beweisen, dass er ein Verzichter ist. Da philosophiert einer von den Überlebensräumen der Zukunft – nennt sein Buch „Verzicht und Freiheit“ und man denkt: da wird sich doch etwas finden lassen, das ihn ökologisch diskreditiert ...
Da schreibt einer vom Menschsein und man ist nicht sicher, ob der Autor sich als Teilmenge derer versteht, die gerade wissentlich die Welt zugrunderichten. NEIN – so lässt sich das Problem nicht lösen, in das wir uns hineinmanövriert haben und dessen Teil wir sind.
Wir leben nach dem Laubbläserprinzip: Das Laub wird weggeblasen – egal wohin – und vielleicht sitzt längst irgendwo ein Forscher, der über dem Patent für Bäume brütet, die im Herbst ihr Blattwerk umweltschonend einziehen statt es abzuwerfen. Vielleicht hilft es ja auch, diejenigen, die sich um den Fortbestand der Welt bemühen und feststellen, dass Bewusstseinsschaffung nicht mit Lieb- und Nettsein zu erreichen ist – vielleicht hilft es ja, eben die, die sich an Startbahnen kleben, als Ökoterroristen zu bezeichnen. Eigentlich doch der klassische Fall von Täter-Opfer-Umkehr. Was bringt es schließlich, die letzten Öltropfen ins Feuer zu gießen und anschließend ohne Brennmittel dazustehen? Nein: So lässt sich keine Buchbeschreibung verfassen. Es geht doch um zeitungsneutralen und meinungsentschlackten Beschreibungstransport.
Dann also vielleicht so: Da hat einer ein kluges Buch geschrieben, das eines mit Sicherheit nicht ist: Teil der Bestseller-Ratgeberliteraturliste. Die Ratgeberliteratur geißelt ja nicht. Jean-Pierre Wils‘ „Verzicht und Freiheit – Überlebensräume der Zukunft“ ist die realistische Obduktion einer gestorbenen Illusion von der Grenzenlosigkeit des Menschseins und keine Feel-Good-Fiebel, die uns glauben macht, dass alles halb so schlimm sei.
Da seziert einer Schicht für Schicht die Illusion, dass es am Ende die anderen werden richten müssen. Da demontiert einer den Traum vom Entkommen-Können und zeigt anhand unzähliger Beispiele aus der Welt der Denker den schnurgeraden Weg in die Rettungslosigkeit und nach jedem Treffer erwischt man sich wieder dabei, dass man den anderen die Schuld zuschieben möchte.
Es dauert lange bis zum Eintreffen der Erkenntnis, dass auch Schuldzuweisung nur Teil einer Flucht ist, die uns der Notwendigkeit enthebt, uns selbst als Teil des Problems zu begreifen. Flugreisen? Ein Menschenrecht. Klamotten zur Einmalnutzung? Das wird man sich ja wohl noch gönnen dürfen. Wir sind an einem Punkt, an dem gelöcherte Jeans eine Armut nachahmen, die man sich designen lässt und sich also leisten können muss.
Dass man all diese Schwarzmalerei der Pseudo-Untergangsheraufbeschwörer nicht mehr hören möchte, sondern die Welt lieber dem Wachstum opfert – verständlich. Die Hölle – so viel steht ja fest – das sind schließlich die anderen. Es sind die, die den Hals nicht voll bekommen. Und wen, bitte schön, soll es denn interessieren, dass am anderen Ende der Welt ein Sack Reis umfällt? Und was, wenn‘s kein Sack ist, sondern ein Mensch ist? Das wäre das ein Kollateralschaden des Strebens nach Individualität und Sorgenfreiheit.
Können wir also jetzt bitte das Thema wechseln? Dieses Selbstgeißelungsgehabe ist doch widerlich und außerdem nicht zielführen. Wir haben ein reines Gewissen. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Dass wir strahlenden Müll entsorgen, der noch gefährlich sein wird, wenn es Menschen nicht mehr gibt – davon wollen wir, bitte, nicht anfangen. Was sollen wir denn tun? Sollen wir uns grünen Weltenrettungsdiktaten ergeben? So weit kommt es noch.
Zurück zu Jean-Pierre Wils: Da macht sich ein Philosoph Gedanken. Wils kommt nicht als Welten(ver)besserer daher. Da denkt einer nach und wird nicht zum Vor-, sondern zum Mitdenker. Da nutzt einer das Denken nicht als Waffe, wohl aber als hilfreiches Instrument. Philosophie als Instrument zum Erkenntnisgewinn. Philosophie ist nicht Politik sondern vernunftgeleitete Hilfestellung. „Fragen des Lebensstils sind nämlich zu Fragen künftiger Über-Lebensstile der Gattung geworden.“ Einer dieser Sätze, die schlafraubend daherkommen. Oder dieser: „In immer kleinteiligeren und verbisseneren geführten Identitäts- und Kulturdebatten verausgaben wir uns, während ein globales Selbsterhaltungsproblem unsere Welt längst zu erschüttern begonnen hat.“ Oder: „Die Möglichkeit des Verzichts scheint keine zu sein. [...] Frei und beweglich, wie wir sein möchten, hat sich die einstige Freiheit, etwas nicht zu wollen, in einen Zwang, wollen zu müssen, aufgelöst. Gelegentliches [...] Nicht-Wollen gehört offenbar nicht länger zum Repertoire unseres Wollens.“
Man merkt, wie innerlich ein Gegenargumentsarsenal in Stellung gebracht wird. Müssen wir uns dergleichen sagen lassen? Klima-Politik, schreibt Wils, sei Gerechtigkeitspolitik. Gerechtigkeit, denkt man, ist eine Übereinkunft, die vom Diskurs abhängt. „Es ist die Aufgabe der Philosophie, die Welt deuten zu helfen, die schwierigen Wirklichkeiten, in denen wir leben, verstehen zu lernen, unser Tun und Lassen gegebenenfalls zu korrigieren“, schreibt Wils. Es gilt zu erkennen, dass wir es mit mehr als einer Wirklichkeit zu tun haben. Diese Idee von einer multiplen Wirklichkeit ist so lange gültig, wie verschiedene Lebensräume gedacht werden können. Wenn die letzte Sekunde vor der Auslöschung anbricht, wird die Wirklichkeit allerdings zum Unikat. Immerhin: Vorher lassen sich trefflich Scheinauswege beschreiben.
Wils zitiert Susan Neiman: „Man kann nicht von der Philosophie verlangen, auf alle Fragen, die sie stellt, eine Antwort zu geben. Wenn sie uns aber nicht einmal eine Kostprobe der Orientierung im Denken vorlegt, wozu ist sie dann nütze?“ Wils‘ Buch ist eine nicht eben Mut machende Sammlung von Kostproben – da hat sich einer tief eingegraben in das Szenario eines notwendigen Verzichts.
Man glaubt, ein Vor-Echo zu spüren: „Wie jetzt? Verzicht? Hört auf, uns zu bevormunden!“ Stimmt: Schließlich möchten wir die Welt individuell und achtsam in Flammen setzen. Aber Weihnachten möchten wir‘s schön haben und zu Silvester soll es, bitte schön, knallen. Feuerwerk als Menschenrecht. Wir lassen uns den Spaß nicht verbieten. Soweit kommt es noch.
Wenn die Zeit anbricht, in der wir keine Wahl mehr haben, ergibt auch Demokratie keinen Sinn mehr – einer der Gedankengänge, die Wils anbietet. Ergibt man sich dieser Orientierung im Denken, wird es eng zwischen den eigenen Schläfen. Der amerikanische Autor Mark Twain, dem wir außer Tom Sawyer und Huckleberry Finn viel Scharfsinnigzynisches zu verdanken haben, prägte einst den Begriff vom „vergoldeten Zeitalter“ und man beginnt zu ahnen, dass eben nicht alles Gold ist, was da glänzt.
Wils‘ „Zuversicht und Freiheit – Überlebensräume der Zukunft“ ist harte Kost der Selbstinfragestellung und mit jeder gelesenen Seite macht sich das Gefühl breit, vielleicht schneller lesen zu müssen, denn das Zitat am Beginn des Vorworts (es stammt von Stefan Reichmann vom ‚Haldern Pop‘) erzeugt eine Eile gebietende Grundierung: „Die Zukunft ist klein.“
Wils‘ Buch ist ein wichtiges Buch. Es lässt sich nicht handlich zusammenfassen. Und: Wils‘ Analyse eines schwindenden Jetzt kommt an keiner Stelle moralinsäuerlich daher. Da denkt einer über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten nach, ohne Wegweiser verkaufen zu wollen. Man steigt mit Wils in ein Karussell der Unmöglichkeiten und am Ende geht es um die Quadratur des Kreisens. Man steigt auf einen Gedankenberg und sollte die Höhenangst ignorieren. Was es am Gipfel zu sehen gibt, ist keine Panoramaaussicht auf ein Happy-End mit Weiter-So-Garantie. Gleich neben dem Gipfelkreuz findet sich – vor die trostlosgrauverhangenen Wolken geschoben – nichts als ein Spiegel.
Von den 253 Seiten des Buches hatte der Autor dieser Zeilen zum Zeitpunkt der Schreibens 160 Seiten gelesen. Jean-Pierre Wils beendet sein Buch – so viel sei verraten – mit „einer Prise Hoffnung“. Lassen wir also dem Autor das letzte Wort. (Es ist nicht das letzte Wort des Buches.) „Die Kommenden – die noch Ungeborenen – sollten eine Welt antreffen, die sie willkommen heißt, weil es sich lohnt, in ihr zu leben. Der Generationenvertrag gilt nicht nur zwischen den Alten und den Jungen, sondern auch zwischen den Jetzigen und den Zukünftigen. Wer möchte schon zu einer Generation gehören, die diesen Vertrag gekündigt hat.“
Der Philosoph Jean-Pierre Wils lebt in Kranenburg. Foto: privat/Ted van Aanholt
