Biografische Spurensuche in der NS-Zeit am Niederrhein
Bernhard Lensing, Mitglied im Geschichtsverein Emmerich, stellt sein erstes Buch vor
EMMERICH. Alles beginnt mit einem Foto. Es zeigt den Vater von Bernhard Lensing, einen Landwirt aus Hüthum – in einer NS-Uniform. Zusammen mit einer dicken Mappen voller Unterlagen aus dem Familienarchiv aus der Zeit des Dritten Reichs wirft die Aufnahme von Gerhard Lensing beim Sohn zahlreiche Fragen auf, etwa: „Welche Rolle hat mein Vater damals gespielt – und warum? Weshalb hat er sich nicht gewehrt?“ Bernhard Lensing forscht weiter nach, will herausfinden, „was mein Vater damals gemacht hat“. Und er will aufschreiben, „was die Nazis mit den Bauern gemacht haben“. Nun, mit 77 Jahren, hat Lensing, der Mitglied im Emmericher Geschichtsverein ist, sein erstes Buch geschrieben: „Ein Hof, mein Vater und der Krieg – Nationalsozialismus am Niederrhein“.
Rund 250 Jahre lang bewirtschaftet die Familie Lensing den Uferhof in Hüthum. „Unsere Familie war recht bedeutend in Emmerich und Umgebung“, weiß Bernhard Lensing nach ausführlichen Recherchen zu berichten, die ihn auch ins Landesarchiv nach Duisburg sowie ins Bundesarchiv und in die Staatsbibliothek nach Berlin führen. Er selbst übernimmt nach dem Tod seines Vaters 1968 den Familienhof, muss jedoch feststellen, dass dieses hoch verschuldet ist. Für den damals Anfang 20-Jährigen sei dies „sehr dramatisch“ gewesen. 1970 verkauft Lensing den Hof, bewirtschaftet in noch zwei Jahre lang, bevor er ihn aufgibt. 1974 wird die gesamte Anlage abgerissen und weicht einem modernen Hof.
Aus dem Tagesbuch des Vaters
Beim Auf- und Ausräumen auf dem Hof findet Lensing 1972 besagte Unterlagen aus dem Familienarchiv, inklusive der dicken Mappe, aber auch das Tagesbuch seines Vaters. Er begibt sich auf Spurensuche in der Familiengeschichte. „Der Verkauf des Hofes war sehr bedauerlich, damals ging eine Tradition verloren“, sagt er. „Ich habe lange unter dem Verkauf gelitten und wollte aufarbeiten, wie es zu der hohen Verschuldung kam.“ Gleichzeitig wollte er – spätestens mit dem Fotofund – mehr über seinen Vater herausfinden. Vor drei Jahren beginnt er die eigentliche Arbeit an seinem ersten Buch, das für ihn auch „eine Auseinandersetzung mit meinem Vater“ ist. Dieser war unter anderem Kreisbauernführer, Deichgräf, saß im Kreistag und im Gemeinderat.
„Ich bin überzeugt, dass mein Vater kein richtiger Nazi war“, sagt Bernhard Lensing. „Aber er hat mitgemacht.“ Wie so viele andere aus. Ein Grund aus seiner Sicht: „In den 1930er-Jahren waren die Bauern in Deutschland insgesamt hoch verschuldet, unter anderem wegen der Weltwirtschaftskrise. Die Nazis haben daraufhin ein Entschuldungsprogramm gefahren und die Bauern so gelockt. Sie haben ihnen suggeriert, dass sie die Zukunft und die Stütze des Dritten Reiches sein sollen.“ Tatsächlich war auch der Uferhof in Hüthum zwischen 1942 und 1943 entschuldet. Der Plan der Nazis sei aufgegangen, sagt Lensing, „viele Bauern standen ihnen nicht mehr anlehnend gegenüber.
Als „gefährlich-faszinierend“ beschreibt Lensing die Methoden der Nazis. „Sie haben so nicht nur die Bauern eingefangen“, betont er und sieht hier „Lockmittel, die ein bisschen an die heutige Zeit erinnern und an das Vorgehen der AfD“. Insgesamt gebe es „viele Parallelen zwischen dem, was damals passiert ist, und heute – nicht nur zur AfD, sondern beispielsweise auch zur Politik von Wladimir Putin“. Darauf müsse man aufmerksam machen.
So ist das Buch von Bernhard Lensing nicht nur eine biografische Spurensuche nach seinem Vater Gerhard und dessen Rolle im Nationalsozialismus. Es zeichnet auch ein eindringliches Bild der NS-Bauernpolitik in den 1930er-Jahren am Niederrhein und im Deutschen Reich.
Dass es ein sehr persönliches Werk ist, versteht sich von selbst – und ist es gleichzeitig auch nicht. Denn: „Mehr als 90 Prozent der Deutschen haben sich nicht gegen die Nazis gewehrt, sondern dieses Staat in irgendeiner Form unterstützt“, erläutert Lensing. „Sie waren in der Regel keine überzeugten Nazis, haben aber mitgemacht.“ Um eindringlich darauf aufmerksam machen zu können, müsse er die damalige Zeit und Situation auch aus der eigenen Sicht beziehungsweise der seiner Familie schildern.
Nun stellt sich die Frage nach dem Zielpublikum, sowohl für sein Buch als auch für die Lesung am 11. Dezember (siehe Infokasten). „Ich glaube und hoffe, dass sich eher die Jüngeren für diese Thematik interessieren“, sagt Lensing. Die Erfahrung habe ihn gelehrt, dass „die Älteren wohl eher sagen werden: Wie kannst du nur so etwas schreiben, auch über deinen Vater?“ Die Antwort: „Ich muss hier ehrlich sein, um glaubwürdig zu sein“, betont Bernhard Lensing.
Arbeit an zweitem Buch: Wasserwirtschaft und Deichschauen am Niederrhein
Unmittelbar nach seinem Erstlingswerk arbeitet er bereits am nächsten Buch. Es wird erneut ein Blick in die Geschichte, über die Wasserwirtschaft und Deichschauen am Niederrhein. Einen zeitlichen Rahmen, wann es erscheinen soll, habe er sich aber nicht gesetzt, betont der ehemalige Bildungsreferent der Akademie Klausenhof und DRK-Kreisgeschäftsführer, der heute in Borken lebt: „Ich habe eine Frau und Enkelkinder, mit denen ich mich beschäftigen möchte“, sagt Lensing und fügt mit einem Schmunzeln hinzu: „Die ersten etwa 100 Seiten habe ich schon geschrieben.“
Lesung im Rheinmuseum in Emmerich
Der Emmericher Geschichtsverein lädt am Donnerstag, 11. Dezember, um 19 Uhr ins Rheinmuseum zu einer Lesung ein. Vereinsmitglied Bernhard Lensing stellt einige Seiten aus seinem Buch „Ein Hof, mein Vater und der Krieg – Nationalsozialismus am Niederrhein“ (220 Seiten, inklusive Fotos und Anlagen, 23,90 Euro, Agenda Verlag) vor. „Ich werde nicht nur lesen, sondern auch Bilder zeigen und einiges aus der damaligen Zeit erzählen“, ergänzt Lensing. Anschließend stellt er sich der Diskussion. Der Eintritt ist frei.
Mit 77 Jahren hat Bernhard Lensing sein erstes Buch veröffentlicht – zuvor hatte er bereits zahlreiche Artikel für den Emmericher Geschichtsverein geschrieben. NN-Foto: Gerhard Seybert