
Kleineckes Theaterdragees
Über-Leben: 13 Theaterclips ohne Worte, die trotzdem alles sagen
KLEVE. Es ist noch ein bisschen hin bis zur Premiere, aber: Harald Kleinecke probt täglich. Mal eine Stunde, mal drei. Am 15. Februar muss alles passen. „Über-Leben“ ist der Titel einer One-Man-Show. Autor, Regisseur und einziger Darsteller: Harald Kleinecke.
Theater – da denkt der eine an zentnerschwere Monologe, der andere vielleicht an boulevardeske Fluffigkeiten oder etwas dazwischen. All das setzt Kleinecke außer Kraft. „Über-Leben“ – das sind 90 Minuten ohne Worte. 13 „Clips“ wird es geben. 13 Variationen über das Leben und seine Schattierungen. Und während ich in der Probe sitze, wird eines klar: Kraft geht auch ohne Worte. Die 13 Clips: eigentlich Musiktheaterszenen. Jeder Szene (Dauer zwischen zwei und sieben Minuten) ist ein Musikstück zugeordnet. Die Entstehung der Szenen: unterschiedlich. „Mal war zuerst die Musik da und ich habe mir die Handlung überlegt – mal hatte ich zuerst eine Handlungs-Idee und habe mich dann auf die Suche nach der Musik gemacht.“
Was ist eigentlich Theater ohne Worte? Wäre das dann Pantomime? Kleinecke unterscheidet. Was er mache, sagt er, sei nicht Pantomime wie bei Marcel Marcéau. „Ich würde es ‚Mime‘ nennen“, sagt Kleinecke. Vielleicht ist das am Ende aber unwichtig: Eine Schublade. Mehr nicht.
Auf dem Boden vor der Bühne: Skizzen – manche punktgenau wie eine Filmpartitur – andere mit einer Beschreibung dessen, was passieren soll. Kleinecke formuliert es so: „Ein Act über den Lebenslauf und zwölf andere Clips, inspiriert von Musik. Besinnlich-Philosophisches, schräg-Alltägliches und exzessiv- Dramatisches – oft humorvoll scheiternd.“ Es regiert – meist ohne Worte – die Körpersprache. „Ich kann dir ja mal ein paar Eindrücke verschaffen“, sagt Kleinecke und schaltet Musik ein. Grieg: In der Halle des Bergkönigs. Schnell wird klar: Das hier ist keine humorvolle Szene. Das ist ein Theaterclip über das hilflosohnmächtige-sich-Bemühen. Da hastet einer fünf Meter über die Bühne und präsentiert dabei irgendwie alle 30 Zentimeter ein neues Gesicht: Szenen einer Anstrengung. Kleineckes Lebensbilderbogen lässt – auch wenn es paradox wirkt – nichts unausgesprochen. Da sitzt man und fragt sich, ob man im eigenen Innern den Beschreibungswerkzeugkasten in Stellung bringen – ob man, was auf der Bühne zu sehen ist, in Sätze transformieren soll; in Sätze, die konkretes Handeln umkreisen, einkreisen, fixieren. Nein. Das wäre falsch. Es geht darum, sich mit Eindrücken vollzustopfen. Es geht darum, das Denken auszuschalten – vielleicht anzuhalten. Unüberdacht entfaltet die Szene eine funkensprühende Energie. Grundvoraussetzung: sich einlassen. Bedingungslos. Erst dann erreichen Kleineckes Theaterdragees ihre optimale Wirkung – spätere Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen, denn: Kleineckes Dragees sind alles anderes als Theaterplacebos.
Zurück in die Halle des Bergkönigs: Das Ende der Musik. Ein Mensch am Boden. Plötzlich verwandelt sich der Akteur von gerade in diesen Harald Kleinecke. „Und? Hast du den Mythos erkannt?“, fragt er und jetzt wird klar: Sysiphos. Man muss es nicht wissen. Das Handeln vorher hat auch ohne eine Geschichte Assoziationen freigesetzt. Das Wunder des Theaters. Je mehr du dich auslieferst – bedingungslos – um so größer und tiefer das Erleben. Manchmal ist Erklärung nur Verstümmelung. Da wird etwas aus der Grenzenlosigkeit des Möglichen auf einen einzigen Gedanken reduziert, der dann zum Gefängnis wird. Es ist wie beim Lesen: Jeder liest immer wieder sich selbst – sucht Anklänge und Zusammenstöße mit dem eigenen Leben. Fünf Menschen sehen fün f Szenen. Das Theater hat 80 Plätze ...
„Möchtest du noch was sehen?“, fragt Kleinecke. „Klar doch.“ Die Musik startet und Kleinecke verwandelt sich in etwas anderes – jemand anderen. Er wirft die Angel aus – man schluckt begierig den Haken, der in eine andere Geschichte führt. Die Wechsel zwischen tiefgründig, grotesk, theatralisch, realistisch: genau so gewollt. Man kann und soll sich nicht an das eine Empfinden ketten – nicht an die eine Musik, die eine Handlung.
Kleineckes „Über-Leben“ ist eine Rundumschau, und so unterschiedlich die einzelnen Szenen, so unterschiedlich sind die Musiken: Chopin, Grieg, Zappa, Ravel, Igorrr (kein Schreibfehler), Radiohead, Lenon, Moon Dog. Und wie sich die Töne ändern, ändern sich die Szenen – ändert sich Kleinecke. Falsch: Der da spielt – teils bis ans Ende der eigenen Puste – ist nicht Kleinecke. Ein Klon vielleicht – mit einer verwandten DNA. Wie viele Aufführungen sind geplant? „Mittlerweile zwei. Ursprünglich sollte es nur eine Vorstellung am 15. Februar um 20 Uhr geben – jetzt ist eine weitere am 28. Februar geplant.“ Karten an der Abendkasse? Vielleicht doch besser vorbestellen.
Harald Kleinecke – Autor, Regisseur und Solist. Zwei Vorstellungen von „Über-Leben“ sind geplant. Foto: Lucas Hans
