Stefan Reichmann in seinem Büro über der Haldern Pop Bar. NN-Foto: Heiner Frost
7. Dezember 2024 · Rees

Haldern Pop Bar: Wie ein reißender Strom

Interview mit Stefan Reichmann anlässlich des Geburtstags einer echten Institution in Rees

HALDERN. Es gibt da diesen besonderen Ort in Haldern – spektakulär unspektakulär und irgendwie mittig. Zum Geburtstag: kleiner Empfang mit Nachbarn, Suppe und Getränken. Im Interview: Stefan Reichmann.

Herr Reichmann, 15 Jahre Pop Bar: Was ist die Botschaft?

Stefan Reichmann: Tja – was sagt man zu 15 Jahren Pop Bar? Es ging ja damit los, dass wir neue Büroräume gesucht haben.

Für die Agentur?

Reichmann: Für alles. Für die Werbeagentur, für das Festival, für mein Büro, das ja immer auch das Headquarter des Festivals war. Wir brauchten einfach mehr Platz. Das war der Zeitpunkt, an dem ich hörte, dass jemand den Laden hier (die Gaststätte Koopmann; d. Red.) gekauft hatte – und der wollte das Ganze abreißen; wollte hier Altenwohnungen bauen. Ich habe dann gedacht: Stopp mal. Das hier ist Koopmann. Das geht nicht, dass man das einfach abreißt. Die Gaststätte ist mitten im Dorf – hat noch diese alten Fenster. Die erste Idee war dann: Ich wollte immer eine Bar haben mit ’ner Kaffeemaschine – so eine Art Wohnzimmer, wo dann auch mal Musiker spielen können. Anfangs hatte ich dabei an unplugged gedacht.

Also akustisch.

Reichmann: Genau. Ich musste dann erst lernen, dass man auch Bands spielen lassen soll, die eben nicht nur akustisch unterwegs sind. Heute Abend spielt hier eine wunderbare Kapelle aus Japan. Das wird hier unglaublich laut werden. Die Jungs werden während des Konzerts zu einem reißenden Strom.

Bleiben wir noch einen Moment bei den Anfängen der Pop Bar.

Reichmann: So eine Bar ist ja auch nichts anderes als ein reißender Strom mit vielen bunten Fischen. Also – zurück zu den Anfängen: Ich habe also, als ich von dem Abrissplan erfuhr, den Karl einfach mal angerufen. Zu der Zeit waren gerade Olli und Maik (Springer und Parker; d. Red.) hier. Die hatten sich frisch ins Festival verliebt. Ich habe also erst mal mit dem Eigentümer geredet und gesagt: „Pass auf: Nicht abreißen. Ich habe ‘ne andere Idee für das Ding. Ich würde da gern oben mit den Büros reingehen und unten die Gaststätte ein bisschen umbauen und daraus so eine Art akustischen Live-Club machen. Ganz ruhig, mit Kaffeemaschine, so ‘ne Bar eben.“ Dann sagte der: „Ich überleg mir das mal. Ich habe eh genug Projekte. Eigentlich kann ich mir das gut vorstellen.“ Der hat sich dann gemeldet und gesagt: „Können wir machen.“ Daraufhin haben wir mit dem Umbauen angefangen.

Klingt spannend.

Reichmann: Ja – aber woran niemand gedacht hatte: Wir brauchten ja auch einen Wirt. Ich bin ja kein Wirt – also kein Gastronom. Ich habe mit tausend anderen Sachen zu tun. Olli und Mike – jetzt kommen wir zu den beiden zurück – kannten also damals einen Typen von der 100-Tage-Bar während der „documenta“ in Kassel. Das war Daniel Priefer. Stopp – nicht Daniel, David: David Priefer. Den haben wir also kontaktiert, und der ist tatsächlich gekommen, und wir haben mit dem geredet, haben ihm das Projekt vorgestellt, und irgendwie war klar: Der muss hier hinziehen. Das war natürlich ein Riesending, denn ehrlich gesagt:Du musst ja einen Menschen dazu bringen, seinen Lebensmittelpunkt zu verlassen, um ganz woanders so ein irres Projekt zu machen. David war genau so ein Typ. Der sagte: „Komm, ich zieh‘ hier also in die Baustelle, und dann haben wir dem unser Vertrauen geschenkt, und der aber vor allen Dingen uns auch seines. Der ist also hier in die Baustelle gezogen, und wir haben angefangen umzubauen. David ist dann hinterher in die Wohnung von unserem alten Büro gezogen, und wir sind schon mal in die Büros hier eingezogen. Dann gab es noch Dirk Brauner mit seinen Mikrofonen. Ich wollte ja immer irgendwie alles unter einen Hut bekommen. Da war auch Christoph (Buckstegen; d. Red.) mit seinem Fotografieren – wir waren ja alle irgendwie unterwegs. Der eine macht tolle Fotos, der andere hat Werbeideen, und einer baut tolle Mikros. Wir haben ein tolles Festival, und irgendwie – dachten wir – würde dieser Ort seine Ausstrahlung bekommen. Das mit der Ausstrahlung hat ja funktioniert. Der David hat das gemacht – in den ersten beiden Jahren. Es ging ja darum, dass eine Idee Halt findet.

Was meinst du damit?

Reichmann: Es ging darum, dass die Idee und das Konzept von den Leuten angenommen wurden. Irgendwann hat es David dann weitergetrieben. Man muss einfach sagen: Der war für uns damals unglaublich wichtig. Wir sind dem alle dankbar. Den Mut musst du ja erst mal haben, aus Kassel nach Haldern zu ziehen – kann auch Göttingen gewesen sein. Ich bin nicht sicher. Wir haben das dann hier Stück für Stück entwickelt, haben Bands eingeladen...

... an Kontakten wird es nicht gefehlt haben, oder?

Reichmann: Richtig. Wir unterschätzen gern unsere Kontakte. Das sage ich mal ganz kleinlaut. Ich hatte ja immer die Vision, dass wir hier eine Day-Off-Bar werden. Eigentlich befinden wir uns ja im Nirgendwo – aber wenn man sich das mal genau ansieht, ist es doch ganz anders. Wir sind zwischen Paris und Berlin oder zwischen Amsterdam und Köln, Kopenhagen und Zürich. Darüber haben wir damals alle gelacht. Die Leute, die wir hier gehabt haben, die waren doch alle auf der Reise von A nach B.

Das mit dem Day-Off müsstest du vielleicht mal kurz erklären.

Reichmann: Day-Off bedeutet: Wenn du als Künstler auf Tournee gehst, dann musst du an dem Tag, an dem du abends nicht spielst, quasi alles selber bezahlen. Das ist für große Bands eher nicht das Problem – die verdienen Kohle genug und nehmen sich dann bewusst auch mal einen freien Abend, um sich zu erholen. Aber für die kleinen Bands sieht die Sache anders aus. Die kommen beispielsweise aus Australien und sind dann hier mit sechs Leuten im Sprinter unterwegs. Die sind dann einfach kaputt. Die fahren kreuz und quer, und irgendwie nimmt ja auch niemand Rücksicht darauf. Da ist dann dieser Mythos, dass einer, bevor er Erfolg hat, erst mal Dreck fressen muss. Die Leute müssen aber auch mal Pause machen. Die müssen – bildlich gesprochen – die Pferde tauschen. Das ist wichtig. In Haldern war immer klar: Wir sind gute Gastgeber. Wir freuen uns, wenn wir Besuch bekommen. Wir hatten mit dem Festival längst unsere Gastgebertauglichkeit bewiesen. Das haben wir auch den Leuten im Dorf erklärt: Wenn wir Menschen einladen, dann meinen wir das ernst. Wir kümmern uns. Es haben ja längst alle verstanden, dass uns als Dorf das gut getan hat. Und unser Publikum ist doch längst die Größe, die unser Festival ausmacht. Alle Künstler sagen mir immer wieder, es sei phänomenal, wie die Leute hier zuhören. Genau das macht unser Publikum aus. Die Bar ist dafür eine Art Trainingszentrum – und einmal im Jahr ist es dann das Festival. Die Leute hören auch bei ganz, ganz ruhigen und leisen Sache einfach zu. Zuhören, das ist mir klar geworden, ist auch eine Kunst.

Hast du einen Überblick darüber, wie viele Veranstaltungen hier stattgefunden haben?

Reichmann: Ich habe den nicht. Ich bin da nicht so der Statistiker, aber mir hat jemand aufgeschrieben, dass es bis heute circa 700 Lesungen und Konzerte gegeben hat. Das sind Zahlen – nicht falsch verstehen –, die mich überhaupt nicht interessieren. Zur Statistik gehört auch, dass bei uns in der Bar mehr Frauen aufgetreten sind als Männer. Aber solche Zahlen sind keine Pressemeldungen. Natürlich ist der Großteil der Veranstaltungen mit Konzerten abgedeckt, aber es hat immer auch Lesungen hier gegeben. Die Bar ist ein Experimentierfeld. Das ist hier ein Ort, der den Leuten das Gefühl vermittelt: Du musst nicht ständig auf dein Handy gucken und stehst trotzdem im Leben. Du hast hier nicht das Gefühl, etwas zu verpassen. Die Band „Bo Ningen“ – das sind die, die gerade unten proben – diese Band wollte also unbedingt hierhin. Die sind schon zum vierten Mal hier. Die nehmen diesen Ort bewusst wahr. Für gewisse Musiker ist das hier ein richtig wichtiger Ort. Dieser Ort zieht seine Kraft paradoxerweise aus der Tatsache, dass er vollkommen unspektakulär ist. Font hat hier gespielt. Es war ein wunderschöner Tag. Die kamen rein, haben das Klavier entdeckt und Musik gemacht. Die haben den ganzen Nachmittag irgendwie gebastelt. Einer hat gelesen. Dann haben die langsam aufgebaut. Ich habe in der Küche was gekocht – es roch nach Thymian und Majoran. Ich hatte denen in Italien versprochen: Wenn ihr nach Haldern kommt, dann koche ich für euch. Dann haben die also langsam mit dem Soundcheck angefangen, und irgendwann kamen die ersten Leute. Der Sänger kam und fragte mich, ob die Band schon früher mit dem Spielen anfangen könnte. Der sagte: „Wir würden jetzt gern improvisieren.“ Die wollten also bis 21 improvisieren und dann das eigentliche Konzert spielen. Er meinte, der Raum und die Zeit – eben alles – würde sich gerade jetzt gut anfühlen.

Und?

Reichmann: Ich habe natürlich gesagt: „Macht einfach. Ist doch super.“ Ich weiß noch, dass ich damals dachte: Jetzt ist die Bar eigentlich am tollsten. Alle waren wie beseelt: die Band, das Publikum. Das war an einem Dienstagabend, und es war einfach magisch. Die Band ist dann am nächsten Tag nach Paris weitergefahren. Am Ende wollte niemand weg. Alle fanden das so schön, und trotzdem waren wir alle wie paralysiert. Es war der Tag nach der US-Wahl: Trump, der „President-elect“. Das war für alle ein totaler Schock. Die Band – das waren alles junge Texaner. Die kommen aus Austin. Austin ist eine Uni-Stadt. Das ist nicht wirklich Texas. Die haben da eine großartige Musik- und Literaturszene. Am anderen Tag hat Erika gespielt. Die Festwoche, die wir geplant hatten, war einfach wunderbar – total schön. Und dann hatten wir den Samstag, an dem wir die Nachbarn eingeladen hatten. Das war ein unglaublicher Abend. Wir haben bis 2 Uhr morgens hier gesessen. Zünftig. Unkompliziert. Schnaps, Bier und ein paar Weinchen – dazu Erbsensuppe.

Ku(h)lt: Das Wandbild in der Haldern Pop Bar. Foto: privat

Ku(h)lt: Das Wandbild in der Haldern Pop Bar. Foto: privat

Stefan Reichmann in seinem Büro über der Haldern Pop Bar. NN-Foto: Heiner Frost