Fünf Fragen, fünf Antworten
Eine schweigende Angeklagte, ein ratloser Gutachter und eine irgendwie unerklärliche Tat
BEDBURG-HAU/KLEVE. Das Verlesen der Anklage dauert kaum drei Minuten, obwohl es um Mord geht: Ein Menschenleben wurde ausgelöscht und suchte man eine Farbe für diesen Prozess, müsste man Grau wählen – ein tristtrostlosundefinierbares Grau.
Die Angeklagte: eine von den Unscheinbaren. Wegen Depressionen war sie – freiwillig – in der Klinik, teilte sich ein Zimmer mit einer alten Dame, die „Stimmen hörte“. „Am 21. Januar dieses Jahres soll A. ihrer schlafenden Zimmernachbarin gegen 23 Uhr Essig-Essenz in den Mund gegossen und ihr anschließend ein Kopfkissen auf das Gesicht gedrückt haben, um sie zu töten. Die Mitbewohnerin verstarb trotz eingeleiteter Reanimationsmaßnahmen“, heißt es in der Anklage.
Was steckt hinter einer solchen Tat? Die Angeklagte wird keine Angaben machen – nicht zur Person und nicht zur Sache. Das erste Graufeld legt sich über den Saal. A. – eine Frau, die nie mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Es gibt keine Vorstrafen, aber eine Vorgeschichte, die man „über Bande“ erfährt. A.s Vater hat sich – es ist schon länger her – suizidiert; ebenso einer ihrer Brüder. Im letzten Jahr stirbt A.s Mutter. Irgendwann vorher ist bereits ihr Lebensgefährte gestorben. Zwei der Geschwister von A. sind „psychisch vorbelastet“. A. selber: Eine ruhige Frau – eine, die immer wieder an schweren Depressionen leidet – eine, die nicht auffällt. Eine, die nicht teilnimmt – die von keinem der Zeugen des ersten Verhandlungstages auch nur als ansatzweise aggressiv beschrieben wird. A. sitzt auf der Anklagebank – äußerlich unberührt, wortlos, teilnahmslos: ein leergeräumtes Gesicht – eines, in dem äußerlich nichts stattfindet. A. ist eine, die alles, was passiert, über sich ergehen lässt. Wie kann sie – diese Frage legt sich auf den Tag – in dieser Nacht im Januar ihrer Mitbewohnerin Essig-Essenz in den Rachen schütten und sie mit einem Kissen ersticken? Das Opfer hatte ihrer Familie erzählt, ihre Mitbewohnerin sei „eine nette Frau“.
Der Tag der Tat: Kreisen um eine Nullstelle. Da sitzt eine, die nichts erklären kann oder möchte. Man weiß es nicht. Da sitzt eine, die im Fall einer Verurteilung lebenslang ins Gefängnis muss und doch vielleicht statt der Haft eher Hilfe bräuchte. Da sitzt eine, die mit dem eigenen Leben nichts anfangen zu können scheint. Verpfuscht sei es, sinnlos und ohne Zukunft, hat sie dem Gutachter gesagt.
So wird A. von den Zeugen beschrieben: Nie aggressiv. Tief traurig. (Eine Trauerbegleiterin). Wirkte apathisch. Abwesend (ein Polizeibeamter). In sich gekehrt. Freundlich, nett, unauffällig (ein Nachbar).Teilnahmslos, wortlos, apathisch (eine Pflegerin). Traurig, aber nicht auffällig (eine Polizeibeamtin). Eine unauffällige Person (eine Krankenschwester). A. selber sagt unmittelbar nach der Tat zu einem Polizeibeamten: „Ich habe eine Frau umgebracht.“ Einem Pfleger sagt sie: „Es war jemand in meinem Kopf.“
Viel mehr ist nicht zu berichten. A.s Mitbewohnerin O. sei, erfährt man, auf dem Wege der Besserung gewesen, nachdem sie vorher „lebensmüde Gedanken“ geäußert habe.
Sie habe zu ihrem Mann gewollt. Ist A.s Tat eine Hilfestellung? Hat O., als A. ihr die Essig-Essenz einflößte, geschlafen? Hat A. verstanden, als sie von einem Polizeibeamten informiert wurde, man befrage sie als Beschuldigte? A. ist stumm geblieben. Der Beamte befragt sie. A. antwortet. Die Verteidigerin wüsste gern, wie denn der Beamte gemerkt haben kann, dass A. ihn verstanden hat, wenn sie doch wortlos blieb. Wieder gleitet man durch ein graues Knäuel. Nichts lässt sich fassen. Man entdeckt – wohin man auch schaut – kein Motiv. Die beiden Frauen – auch das erfährt man – haben sich gut verstanden. Es gab keine Komplikationen.
Man ist gespannt auf das psychiatrische Gutachten. Hat A. die Tat in einem Zustand der Schuldunfähigkeit begangen? Waren Einsichts- und oder Steuerungsfähigkeit eingeschränkt? Es wird viel abhängen von diesem Gutachten. A. sitzt auf der Anklagebank und man kann die Beschreibungen nachvollziehen, die man den Tag über gehört hat: teilnahmslos. Da ist eine zu Gast in der eigenen Katastrophe.
Es tritt auf: ein ratloser Gutachter. Nein – man muss das anders formulieren. Da sitzt einer und sucht nach einem Weg, der ihm – trotz jahrzehntelanger Erfahrung auf seinem Gebiet – versperrt zu sein scheint. Eines allerdings ist klar: A. ist schwer depressiv. Daran besteht kein Zweifel, aber letztlich geht es um die Frage: Hat A. die Tat im Zustand eingeschränkter Schuld- und oder Einsichtsfähigkeit begangen?
Nichts, so der Gutachter, spräche für eine Einschränkung. Aber dass ein Mensch, der niemals vorher fremdaggressiv war, urplötzlich einen anderen Menschen tötet, wirft Fragen auf. Geht man nach Tabellen, nach Eingangsmerkmalen für psychische Störungen, dann findet sich nichts außer A.s chwerer Depression. Ist Altruismus ein mögliches Modell? Hat A. gehandelt – also getötet – um O. jenes Leid zu verkürzen, das in ihr, A., seit Jahren haust? Da wohnen zwei Frauen in einem Zimmer – und irgendwie auch in einem Schicksal: Wichtige Menschen sind gestorben. Einsamkeit ist geblieben und gewachsen. A. weiß – vielleicht intensiver noch als O. – wie Aussichtslosigkeit sich anfühlt. A. weiß, wie es sich anfühlt, wenn man von innen heraus versteinert. Sie weiß, wie es sich anfühlt, keine Zukunft zu haben. A. – hat sie dem Psychiater gesagt – würde, wenn es eine todsicher Pille gäbe, diese Pille nehmen. Sofort. Vielleicht war A.s Tat der Versuch einer Leidensminderung für ihre Mitbewohnerin. Nicht alles, was denkbar ist, dient bei Gericht als rettendes Erklärungsufer.
O. ist, sagt die forensische Gutachterin, erstickt. Es ist unwahrscheinlich, dass A. ihr Essigessenz eingeflößt hat. Nichts spricht dafür. Dass allerdings das Kissen, das A. der O. minutenlang unter großem Kraftaufwand auf den Mut gepresst haben muss, mit Essigessenz getränkt war, dafür sprechen Verätzungen in O.s Luftröhre. O. hat also die Essenz nicht – wie in der Anklage angenommen – eingeflößt bekommen, denn dann müssten sich Verätzungen der Speiseröhre finden. O. hat sich in ihrem Todeskampf in die Zunge gebissen. Fotos werden am Richtertisch angeschaut und längst merkt man, dass sich um A. ein Netz zusammenzieht, dessen Maschen immer enger werden.
Wie soll man plädieren? Der Staatsanwalt sieht ein Mordmerkmal: Heimtücke. A. hat die Arg- und Wehrlosigkeit ihres schlafenden Opfers ausgenützt. Irgendwie stolpert man innerlich über das Ausnützen. Es hat den Klang der Erbarmungslosigkeit, der nicht in diese Tat zu passen scheint. Trotzdem: Heimtücke ist ein Mordmerkmal. Ist es erfüllt, bleibt kein Spielraum: lebenslange Freiheitsstrafe. Der Nebenklagevertreter sieht es auch so und fügt Grausamkeit hinzu. Auch Grausamkeit gehört zu den Mordmerkmalen. Und dann das Schweigen: Natürlich ist es A.s Recht zu schweigen. Aber mit ihrem Schweigen, so der Anwalt, lasse A. die Angehörigen für immer ohne Erklärung.
A.s Verteidigerin setzt auf eine zeitliche Lücke: Sie beginnt in dem Augenblick, als die letzte Pflegerin im Zimmer von A. und O. war und O. schlafend fand. Die Pflegerin verlässt das Zimmer. Dann die Tat. Wie kann man wissen, ob O. nicht aufgewacht ist? Wie kann man wissen, ob es nicht doch ein Gespräch gegeben hat? A. – ein Mensch, der niemals zuvor Fremdaggression gezeigt hat, soll – von jetzt auf gleich – zur Mörderin geworden sein? Einfach so? Strafe im Ermessen des Gerichts. A. nutzt ihr Recht auf das letzte Wort nicht. „Sie haben als Angeklagte das letzte Wort“, sagt der Vorsitzende und fragt: „Möchten Sie noch etwas sagen?“ Das „Nein“ der Angeklagten verhallt hilflos im Raum ...
... „Dann treffen wir uns hier in 30 Minuten zur Urteilsverkündung“, hört man den Vorsitzenden sagen und denkt: Das geht aber fix … 30 Minuten später – das Urteil: lebenslang. „Wir haben die Aussage der Angeklagten nicht gebraucht“, hört man den Vorsitzenden sagen. Ja – für die Angehörigen hätte es eine Hilfe sein können, wenn sie über die Motivlage Bescheid wüssten – wenn eine Art von Klarheit entstanden wäre. Aber A. hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht: Sie muss nichts sagen und ihr Nichtssagen darf nicht negativ ausgelegt werden.
Ein Nebengedanke taucht auf: Vielleicht ist eben diese Verurteilung A.s Ziel gewesen. Vielleicht erhofft sie sich Ruhe – eine Art Halt durch Haft. Vielleicht denkt sie, dass ihr Grübelzwang, ihr Gedankenkreisen abgemildert wird. Dass Ruhe einkehrt. Dass das Grau zur Lebensfarbe wird. Vielleicht will sie nicht in ein psychiatrisches Krankenhaus. Vielleicht will sie sich nicht der – aus ihrer Sicht gefühlten – Qual einer Therapie aussetzen. Der Vorsitzende listet fünf Fragen auf. „Wir mussten hier fünf Fragen beantworten und haben zu jeder Frage glasklare Antworten gefunden.“
Frage 1: Hat A. Frau O. getötet? Nichts spricht dagegen. Zwei Frauen in einem Zimmer, das niemand sonst betreten hat. Am Ende ist O. tot und es kann kein Suizid gewesen sein. Check.
Frage 2: Gab es einen Tötungsvorsatz? „Ja“, antwortet der Vorsitzende stellvertretend für die anderen auf der Richterbank. A. hat ein Geständnis abgelegt und Gewalt angewendet – über Minuten.
Frage 3; Kann es Tötung auf Verlangen gewesen sein? Nein. O., so hatte ein Zeuge ausgesagt, sei auf dem Weg der Besserung gewesen. Sie habe nach Hause gewollt und nicht mehr „zu ihrem verstorbenen Mann“. Der Vorsitzende nennt weitere Gründe aus den Feinheiten der Justiz. Ergebnis: Check. Keine Tötung auf Verlangen.
Frage 4: War A. bei Begehung der Tat vermindert schuldfähig? Waren Steuerungs- und oder Einsichtsfähigkeit gemindert? Man denkt an das psychiatrische Gutachten zurück. Keine Anhaltspunkte. Check.
Frage5: Lag ein oder lagen vielleicht sogar mehrere Mordmerkmale vor? Der Vorsitzende erklärt nochmals, dass es nicht etwa der Vorsatz sei, der den Totschlag vom Mord unterscheidet. „Es geht einzig darum, ob eines oder mehrere der Mordmerkmale, die das Gesetz nennt, zutreffen.“ Das Merkmal: Heimtücke – das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit also. Ein Klassiker: Angriff auf ein schlafendes Opfer. Eben das sieht die Kammer als gegeben. „Wenn wir auch nur ein Mordmerkmal feststellen, bleibt am Ende nur ein Strafmaß: lebenslange Freiheitsstrafe.“
Wieder einmal tut sich eine Lücke auf: Es ist die Lücke zwischen glasklaren Antworten auf gestellte Fragen und dem, was man gefühlte Wirklichkeit nennen könnte. Justiz – auch das ist klar – ist keine Gefühlsangelegenheit. Trotzdem fällt die Synchronisation von Urteil einerseits und Bestandsaufnahme des Geschehenen mindestens nicht leicht.
Es spielt keine Rolle, was man sich für diese Angeklagte wünscht. Fünf Fragen: fünf Antworten. Aus Sicht der Kammer ist jede einzelne Antwort glasklar. A. wird laut Strafe den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen – nichts anderes bedeutet: lebenslang. Und ja – es kommt vor, dass Verurteilte wieder freikommen, aber die Annahme, lebenslang bedeute 15 Jahre, ist nicht mehr als eine Falschinformation.
Zurück zu A.. Regungslos saß sie von Anfang an. Regungslos sitzt sie jetzt – streckt am Ende einer Justizwachtmeisterin die Handgelenke entgegen – wird, mit Handfesseln versehen, aus dem Saal geführt. Sie hat keine Zukunft – das hat sie selbst gesagt. Sie würde, gäbe man sie ihr, mit einer Pille ihr „verpfuschtes Leben“ (A. gegenüber dem Psychiater) beenden. Antworten hat dieser Prozess nicht zutage gefördert – nur das unverzichtbare Urteil. Eine Justiz ohne Urteil, denkt man, wäre ein Gespenst – zumindest für die Juristen.
Mit einem Kissen erstickte eine Frau ihre Zimmernachbarin in der LVR-Klinik. NN-Foto: HF.