Christine spielt die Violine

NIEDERRHEIN. Frau Janßen begrüßt die Gäste: drei Musikerinnen vom Sinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks. Frau Janßen heißt vorne Anne und ist die Chefin der St. Michael Grundschule in Reichswalde.

Rechenschwäche?

Frau Janßen hat vielleicht eine Rechenschwäche. „Ich begrüße ganz herzlich unsere vier Gäste“, sagt sie. Vorne – vor den Stühlen für die 170 Schüler: drei Stühle – drei Notenständer. Und dann wäre da noch eine Leinwand. Sagen wir es wie es ist: Natürlich hat Frau Janßen kein Rechenproblem. Der vierte Gast wird quasi zugeschaltet. Er ist virtuell. Und dann auch wieder nicht. Die Kinder lieben ihn. Sie werden mit ihm reden – seine Fragen beantworten und seinen Gästen zuhören. 170 Schüler sind irgendwie annähernd lautlos einmarschiert. Man ist beeindruckt. So leise kann Viel sein. Zwischendurch streift Frau Janßen mit dem Mucksmäuschenfinger durch die Reihen. Psst. „Ihr wisst ja, wie man sich im Konzert benimmt“, sagt sie. Zeit, über das Eigentliche zu reden.

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Der Ludwig

Es geht um Beethoven. Der Westdeutsche Rundfunk entsendet Musiker in Schulen: Werbung am lebenden Objekt. Werbung für Musik und – das kommt huckepack – Werbung für den Sender. Kinder und Klassik – eine Diaspora? Ein bisschen vielleicht. Drei Damen aus dem Sinfonieorchester sind angereist: Christine spielt Violine, Nina Bratsche und die zweite Christine spielt Cello.
Alles beginnt mit Musik: ein Streichtrio. Die Damen spielen famos. Natürlich. Sonst wären sie nicht im Orchester. Nach der Eröffnungsmusik: der Auftritt des vierten Gastes. Es ist Dackl. Wir lernen: Tiere gewinnen immer. Wichtige Notiz: Der Dackel heißt Dackl. Damit keine Klagen kommen wegen der Orthographie.

Pustekuchen

Der Dackl bringt Schwung in die Bude. Gekonnt plaudert er über Musik und – natürlich – über den Beethoven. Der war, erfährt man, nicht gut in Mathe. Und da heißt es doch immer, wer Musiker ist, kann auch gut Mathe. Pustekuchen. Dackls erste Zeitzeugen: Töpfe aus Beethovens Küche. Die sabbeln durcheinander – ganz anders als die Schulkinder. Die sitzen da und bieten ein Maximum an Konzentration – mucksmäuschenfingerunterstützt. Der Küchenkessel lässt einen Pups. Das kommt an. Die Menge tobt.
Die Damen spielen ihr zweites Stück. Dann: Auftritt eines Metronoms: ticktackticktack. Dazu eine Beethovengeschichte. Als der Ludwig schon in Wien lebte, wurde er mal eingesperrt. „Der Beethoven hat halt nicht so auf die Kleidung geachtet. Da dachten die Polizisten, er ist ein Landstreicher und haben ihn festgenommen“, erzählt Dackl. Da gab es – das erzählt der Dackl nicht – noch einen ganz Großen mit B, der auch mal „gesessen“ hat. Bach hieß der und hatte einen Fagottisten beleidigt (Zippelfagottist!) und sich dann mit ihm gestritten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Damenfächer

Es folgen: vier weitere Zeitzeugen. Der Beethoven hatte es mit den Damen – machte denen schöne Augen. Auftritt der Fächer. Vielleicht sollte man Fächerinnen sagen. Es sind ja Damenfächer.
Dann wird es aber ernst: tatatataaa. Die Fünfte – das Signature Piece vom Ludwig. Andererseits: Das wäre ja gerade so, als würde man Mozart auf die kleine Nachtmusik reduzieren. Apropos Mozart: 2017 war der Dackl schon mal in Reichswalde – mit Mozart im Gepäck. Jetzt also: Beethoven. Die drei Orchesterdamen spielen die Fünfte. Das Publikum: begeistert.

Wo sind die Sterne?

Rückkehr des Dackls. Neuer Ehrengast: die Europafahne. Da steht sie – ganz in Blau und ohne Sterne. Die sind im Wind abhanden gekommen. Wie schade. Wie bekommt man die Sterne zurück auf die Fahne? Dackl erklärt‘s.
Ihr müsst die Ode an die Freude singen.“ Die Kinder sind vorbereitet. „Darauf haben wir uns vorbereitet“, hatte Anna Janßen vorher erklärt. „Also wir spielen vier Takte vor“, sagt die Christine mit der Violine, „dann stehe ich auf und geben euch den Einsatz und ihr singt. Wir spielen dazu.“
Wenn das mal gut geht, denkt man. Dann: Vorspiel, Einsatz: „Freude, schöner Götterfunken“, singen die Kinder und man sitzt gerührt da. Ist das schön. Die Christine mit der Violine findet am Ende, dass noch ein wenig lauter gesungen werden könnte.

Alle Menschen werden Brüder

Frau Janßen regt ein Vorsprechen an. Zwei, drei: Freu-de schö-ner Göt-ter-fun-ken, Toch-ter aus E-ly-si-um … all-e Men-schen wer-den Brüder. Dann wieder das Vorspiel. Christine mit der Violine steht auf. Einsatz. Und los. Es ist wirklich famos und geht irgendwie ganz tief rein. Natürlich treffen nicht alle den Ton. Was soll‘s: das hier ist der Michaelscluster. Wer nicht weißt, was ein Cluster in der Musik ist, schaut mal nach.
Der Beethoven konnte übrigens, als er älter wurde, nichts mehr hören. Der war richtig taub, aber tief drinnen hat er die Musik gehört. Das sagt der Dackl nicht, aber so ist es. Musik kann man sich vorstellen wie ein Bild. Ausprobieren? Ganz einfach: Nur mal ‚Happy Birthday‘ denken. Nichts singen. Nur hören, was im Kopf passiert.

Kuh, Kuckuck, Maus und was von Pferd

Am Schluss noch Allgemeines. Tiereraten. Die Violine beginnt: Was klingt wie eine Möwe, könnte auch eine Maus sein. Die Bratsche steuert einen Kuckuck bei und das Cello eine Kuh, die von manchen für einen Wal, von anderen für einen Elefanten gehalten wird. Dann noch mal ein Hahn von der Violine. Was lernen wir: klein ist hoch, groß ist tief und: Die Haare auf dem Geigenbogen sind vom Pferd. Echt jetzt? Jau. Aber die Haare allein machen noch keinen Ton. Man muss Harz drauf schmieren, sonst gibt es keinen Grip. Am Schluss hauen die Orchesterdamen noch einen raus. Ein Tip von Frau Janßen: Beim Hören einfach mal die Augen schließen. Da werden die Töne noch intensiver. Plötzlich klingen die Orchesterdamen so als seien die Kollegen auch mit angereist. Großes Kino. Tosender Beifall. Musik ist schon etwas Tolles. Und den Beethoven sollte man kennen. Und den Bach. Und den Brahms – nur, um mal ein paar Herren mit B zu nennen. Und demnächst kommt der Dackl vielleicht mal wieder nach Reichswalde. Die Kinder würden sich freuen. Frau Janßen auch. HF

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