Willkommen bei der Pflegekammer

„Ich wende mich an  die Einwohner des Kreises Kleve […] und bitte Sie um Ihre Unterstützung.“ So beginnt das Schreiben eines examinierten Krankenpflegers. Es geht um das Thema „Pflegekammer NRW“ und eines ist sicher: Begeisterung geht anders.

Ein Brief

„Was haben ‚wir‘ uns gefreut, als im letzten Jahr die Menschen unter dem Eindruck von Corona auf den Balkonen gestanden und applaudiert haben – auch wenn diese Form der Wertschätzung wenig Auswirkungen auf die finanzielle Situation im Gesundheitswesen oder auf unser Portemonnaie hatte. […] Ich verdiene als examinierter Krankenpfleger genauso viel wie ein Bekannter ohne Ausbildung in dem Unternehmen X; wenn dieser seine Kisten falsch stapelt, hat das allerdings ganz andere Konsequenzen, als wenn ich einen Fehler bei der Behandlung von Menschen mache… (sagt mein Bekannter übrigens selbst).“

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Was steckt hinter diesem Unmut: „In den letzten Tagen habe ich – wie fast alle Kollegen – Post vom ‚Errichtungsausschuß der Pflegekammer NRW‘ erhalten  mit der Aufforderung, meine Registrierung durchzuführen.“ Der Autor des Briefes, seines Zeichens examinierter Krankenpfleger, schreibt: „Hier hat die Politik – mal wieder über die Köpfe der Betroffenen hinweg – entschieden. Die examinierten Pflegekräfte werden unter Androhung existenzbedrohender Konsequenzen zu einer Mitgliedschaft gezwungen – so stellt man sich Wertschätzung vor. “

Daten

Es geht um das, was Gert (Name geändert) Zwangsmitgliedschaft nennt. „Die Sache ist aus meiner Sicht im wahrsten Sinne des Wortes zwingend einfach: Wer als Pfleger nicht Mitglied in der Kammer wird, kann seinen Beruf nicht mehr ausüben. Das Ganze ist neben der unfreiwilligen Mitgliedschaft auch mit einem Mitgliedsbeitrag verbunden. Dazu kommt die Gebühr für eine beglaubigte Kopie der ‚Urkunde zur Berechtigung der Führung der Berufsbezeichnung‘.“ Warum, so fragt Gert, werde die beglaubigte Kopie nicht gleich beim Arbeitgeber angefordert? „Schließlich wurde mein Arbeitgeber doch dazu verpflichtet, meine Daten herauszugeben.“

Außerdem, so Gert, werde das Recht zur Berufsausübung künftig an die Teilnahme bei ‚Pflichtfortbildungen‘ gekoppelt. „Dabei fallen weitere Kosten und der Verlust von ohnehin knapper Regenerationszeit an.“ Weiter schreibt Gert: „Die Umfrage unter circa 1.500 Pflegekräften, die eine Zustimmung von 79 Prozent erhalten haben soll, ist aus meiner Sicht bei (noch) über 220.000 Pflegekräften in NRW nicht repräsentativ; wenn, sollte man – so, wie man jedem Unterlagen für die Registrierung zukommen lassen konnte – alle betroffenen Pflegekräfte nach ihrer Zustimmung befragen. […] So sollen angeblich über 35 Prozent  der Befragten die negativen Konsequenzen im Vorfeld gar nicht bekannt gewesen sein; das entspricht nicht meinem Demokratieverständnis!“

Auswahl nicht vollständig

Gert sieht auch die Auswahl der künftigen Mitglieder kritisch.  „Tausende von Pflegehelfern beziehungsweise Pflegeassistenten, ohne die heutzutage Krankenhäuser nicht mehr funktionieren könnten, sind von der Mitgliedschaft in der Pflegekammer ausgeschlossen.“ All das, so Gert, trage beim ‚Vorhaben Pflegekammer‘ seiner Ansicht nach weder zu einer gesteigerten Wertschätzung des Pflegeberufes bei, noch sei die Gründung der Pflegekammer ein Beitrag zur Behebung des Pflegenotstandes. Im Prinzip würden, so Gert, eine verfehlte Gesundheitspolitik unter ‚dem Deckmäntelchen einer eigenen Interessenvertretung‘ auf die Schultern des Pflegedienstes verlagert.

Mit allen Mitteln

„Ich darf Sie daher bitten, die Einrichtung einer Pflegekammer mit allen Mitteln zu stoppen, beziehungsweise eine Abstimmung hierüber den künftigen Mitgliedern zu überlassen. Über eine Stellungnahme Ihrerseits würde ich mich sehr freuen.“ Gert hat sein Schreiben unter anderem an  den CDU-Politiker Dr. Günther Bergmann geschickt und eine Antwort erhalten.

Die Antwort

Bergmann sieht die Dinge anders. „Das Gesetz zur Einrichtung einer Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen trat in Kraft, nachdem verschiedene Pflegeverbände und Pflegezusammenschlüsse über Jahre immer wieder an die Politik herangetreten waren und um die Errichtung eben einer solchen Pflegekammer baten. Die Vorgängerregierung in NRW hat diesen Rufen aus Ihrem Berufsstand leider nie Gehör geschenkt und auch nie beispielsweise eine nun laut geforderte Urabstimmung durchgeführt… Anlass für die Errichtung einer Pflegekammer Nordrhein-Westfalen war der Wunsch aller Beteiligten, dass den Pflegeberufen eine höhere Wertschätzung zukommen soll und dass sich offensichtlich viele Pflegefachkräfte durch die bestehenden Verbandsstrukturen nicht ausreichend vertreten fühlen und stattdessen eine eigenverantwortliche Vertretung ihrer Interessen wünschen. Dass dies einzelnen Verbänden und deren Vertretern nicht gefällt, war von Anfang an klar. Aber: Die von Ihnen beschriebenen Missstände sind ja unter den jetzigen Vertretungsbedingungen entstanden und nicht behoben worden; vielleicht schafft eine Kammer künftig Besserung – der Beweis sollte angetreten werden.

[…] Das fachzuständige nordrhein-westfälische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales ließ hierzu eine repräsentative Befragung durchführen, die Ende 2018 ergab, dass sich 79 Prozent der befragten Pflegenden für die Errichtung einer Pflegekammer aussprachen. Mit Blick auf die vorgebrachte Kritik, die befragten 1.600 Pflegenden würden einen zu kleinen Teil aus der vermutlich mehr als 200.000 Personen umfassenden Gesamtgruppe ausmachen, darf ich darauf hinweisen, dass repräsentative Wahlumfragen – etwa für Bundestagswahlen – oft unter nur rund 1.000 Personen bei über 60 Millionen Wahlberechtigten durchgeführt werden und spätere Ergebnisse dennoch recht genau abbilden. […] Durch die Pflegekammer erfahren die Pflegefachkräfte eine Aufwertung ihrer Arbeit, denn sie können ihre berufsrechtlichen Angelegenheiten in Form einer öffentlich-rechtlichen Kammerstruktur selbst regeln und auch an Entscheidungen mitwirken, die sie betreffen. Zu den wichtigen Aufgaben der Pflegekammer gehören die Entwicklung einer Berufsordnung, die Festlegung von Qualitätsrichtlinien und die Zuständigkeit für die berufliche Fort- und Weiterbildung; all dies entnehmen Sie bitte dem Ihnen bereits vorliegenden Gesetzestext. Die Pflegefachkräfte befinden sich also mit ihrer eigenen Kammer schon bald auf Augenhöhe mit anderen Akteuren des Gesundheitswesens, wie den Ärzten, Apothekern und Psychotherapeuten, die ebenfalls in Kammerstrukturen organisiert sind.

Auf Augenhöhe

[…] Wer ein selbst verwaltetes Gesundheitssystem in Deutschland möchte, sollte auch dafür sorgen, dass alle Beteiligten in den entscheidenden Gremien vertreten sind – und zwar auf Augenhöhe. Genau dies ist jedoch bisher nicht der Fall. […] Die Selbstverwaltung der Pflegefachkräfte stärkt aus unserer Sicht wunschgemäß die Stellung des Pflegeberufs im Gesundheitssystem und dessen Anerkennung auch in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich. Ich bitte Sie vor diesem Hintergrund, Ihre Vorbehalte gegenüber dem Strukturwechsel hin zu einer Pflegekammer, die wie alle Kammersysteme auf Pflichtmitgliedschaft der Betroffenen beruht, zu überdenken.“

Christin Becker, SPD-Landtagskandidatin für den Norden des Kreises Kleve, äußert sich wie folgt: „Wir machen schon in unserem Regierungsprogramm zur Landtagswahl deutlich, dass es eine Zwangsmitgliedschaft in einer Pflegekammer gegen den Willen der Beschäftigten mit der SPD nicht geben wird. Wenn man ernsthaft der Pflege eine Stimme geben möchten, darf Politik nicht über den Kopf der Mehrheit der Beschäftigen entscheiden. Wir brauchen eine umfassende Aufklärung und eine Urabstimmung unter allen Pflegekräften in NRW. Für mich fängt hier schon der Respekt für jede einzelne Pflegekraft an.“

Lars Aengenvoort, SPD Landtagskandidat für den Südkreis, ergänzt:”Die Landesregierung hat den Termin zur Wahl der Pflegekammer verschoben. Der Widerstand gegen die Einrichtung war zurecht deutlich. Auch wird die Beitragsfreiheit für Pflegekräfte bis 2027 nicht überzeugen. Es braucht eine Vollbefragung aller Pflegekräfte vor der Einrichtung mit umfassenden Informationen. Alles andere ist auch eine Verschwendung von öffentlichen Geldern, die man besser direkt für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen einsetzen könnte.“

ver.di

Gerts Ruf nach einer Abstimmung aller Pflegekräfte, die künftig Mitglieder der Kammer sein sollen, deckt sich mit den Ansichten der Gewerkschaft ver.di: „Die Politik muss jetzt unverzüglich eine Urabstimmung über die Zukunft der Pflegekammer in NRW einleiten. Alle Pflegefachkräfte sollten befragt werden, ob es eine Pflegekammer geben soll. Alles andere ist unsinnig und eine Verschwendung von öffentlichen Geldern. Die rund 50 Millionen Euro könnten viel besser dafür eingesetzt werden, mit der Lösung der Probleme in den Pflegeeinrichtungen zu beginnen.“ [Quelle: ver.di]

50 Millionen

Zu den oben erwähnten 50 Millionen Euro:  Am 15. Dezember 2021 hat die Landesregierung NRW in einem Änderungsantrag an den Haushalt kurzfristig die Pflegekammer von der Erhebung von Beiträgen ihrer Mitglieder entbunden. Die damit entfallende Refinanzierung der Kammer übernimmt nun der Landeshaushalt. Bis 2027 soll die Pflegekammer mit rund 50 Millionen Euro finanziert werden. [Quelle: ver.di]

Gescheitert

Die Landespflegekammer Schleswig-Holstein wurde – acht Wochen, nachdem deren Mitglieder für eine Auflösung stimmten – abgewickelt. [Quelle: rechtsdepesche.de] Auch in Niedersachen scheiterte das Projekt einer Pflegekammer.

Ausreichend Vertretungen

Auch Bernd C. (Name geändert) ist wenig begeistert, wenn man ihn auf das Thema Pflegekammer anspricht. C. ist in leitender Funktion in der Pflege tätig. „Das Thema ist ein total heißes Eisen und wer sich gegen die Einrichtung einer Pflegekammer ausspricht, wird fast  schon wie ein Verschwörungstheoretiker behandelt.“

Man habe in der Pflege ausreichend Interessenvertretungen, sagt C.. Arbeitgeber seien übrigens verpflichtet, die Daten ihrer Angestellten weiterzugeben. Das wisse er von einem Freund, der eine Pflegeeinrichtung leitet. „Wer sich daran nicht hält, begeht eine Ordnungswidrigkeit, denn es handelt sich da nicht um eine Empfehlung sondern um ein Gesetz.“

Viele seiner Kollegen seien ungehalten. „Erst mal muss man sich ja um eine beglaubigte Abschrift des Examenszeugnisses kümmern. Das allein ist – je nachdem, wo man wohnt und mit welcher Behörde man es also zu tun hat – neben der Rennerei und Wartezeit auch mit Kosten verbunden. „Ich habe fast acht Wochen warten müssen.“

70 Euro

Zurück zu den Kosten: „Die halten sich natürlich im Rahmen – es dürften maximal  zehn Euro sein –, aber dazu kommt ja dann auch noch der Beitrag.“ Fünf Euro im Monat seien, so C., natürlich überschaubar, „aber auch da kommen übers Jahr 60 Euro zusammen.“ Dazu müsse man die Kosten für die Urkundenbeglaubigung rechnen. „Da landen wir dann auch bei circa 70 Euro. Da sind viele eher ungehalten“, sagt C., der nicht sicher ist, „ob aus dem Projekt Pflegekammer etwas wird. Kann ja sein, dass das Ding nach der Landtagswahl erst mal wieder auf Eis gelegt wird.“

Total dagegen

Yvonne steht kurz vor ihrem Altenpflege-Examen. Im April wird sie ihre Prüfung ablegen. „Ich bin total gegen diese Kammer. Was mich am meisten stört: Niemand hat die Wahl, Mitglied zu sein oder nicht. Ich finde: Jeder, der das möchte, soll da mitmachen. Das sollte eine freie Entscheidung sein.“ Yvonne hat vor ihrer Ausbildung als Pflegehelferin gearbeitet. „Wenn ich mich jetzt gegen eine Mitgliedschaft entscheiden würde, käme das ja einem Berufsverbot gleich. Dann bräuchte ich mein Examen nicht mehr machen, denn ohne die Mitgliedschaft hätte ich dann keine Chance als examinierte Pflegerin in meinem Beruf zu arbeiten. Ich halte überhaupt nichts von dieser Zwangsmitgliedschaft und ich weiß, dass meine Chefin das ganz genau so sieht.“

Angehörige der Pflegekammer sind verpflichtend alle Pflegefachkräfte, die in Nordrhein-Westfalen ihren Beruf ausüben oder, falls sie derzeit nicht oder nicht mehr in der Pflege berufstätig sind und pflegespezifisches Fachwissen anwenden, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen haben.

Dafür – dagegen

Bei Facebook hat die Gruppe „Nein zur Pflegekammer“13.938 Mitglieder [Stand: 18. Januar, 14 Uhr]. Am 29. Januar, liest man, soll um 16 Uhr an der Rheinuferpromenade in Düsseldorf, Höhe Bäckerstraße, eine Kundgebung (Bildung einer Lichter- und Menschenkette) stattfinden. Die Aktion wird von zahlreichen Pflegebündnissen unterstützt.

Die Facebook-Gruppe „Pro Pflegekammer NRW“ hat (Stand 18. Januar, 14 Uhr) 186 Mitglieder. Auf Youtube findet sich unter dem Stichwort „Pflegestärke“ ein siebenteiliger „Kammer-Podcast“.

Maßgeblicher Betrag

In „Altenpflege Online“ (3. Dezember 2021) geht es unter anderem um eine Stellungnahme der „Arbeitsgruppe Pflege und  Ethik II“ der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) Göttingen. Aus Sicht der AEM tragen Pflegekammern „maßgeblich dazu bei, eine vertrauenswürdige und qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten“. Die AG begründet laut Altenpflege Online die Relevanz der Pflegekammern unter anderem mit Aufgaben wie  Pflegewissen und -standards auf dem neuesten Stand zu halten und den Pflegenden zugänglich zu machen; Bildungsangebote zu fördern; die Pflegeprofession weiterzuentwickeln; pflegerische Expertise in politische Gremien einzubringen. Das Gesetz zur Errichtung der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen trat im Juli 2020 in Kraft.        

Moratorium zum Thema Pflegekammer NRW: Pressemitteilung der SPD

 

 

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