Ein Stich ins Herz

KLEVE. Frau Z. spricht mit verschwundener Stimme. Sie wirkt schmächtig und sagt, dass Gabriel ihr fehlt. Sehr. Es wird sich nichts ändern an diesem Zustand, denn Frau Z. soll Gabriel erstochen haben.
Drei Stiche – einer ging in die Herzkammer. Im Krankenhaus konnten sie Gabriel nicht mehr retten. Ein Haustyrannenmord? Es macht nicht den Anschein. Ein anderer Tyrann hat die Beziehung von Frau Z. und Gabriel beherrscht: der Alkohol. Zwei Flaschen Wodka sollen es am Tattag gewesen sein, als der Streit begann. Frau Z. – so formuliert es das Gesetz – hat einem Menschen getötet, ohne Mörderin zu sein. Totschlag wird verhandelt. Im Hintergrund der Paragraph 64: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. 14 Zeugen bevölkern den ersten Verhandlungstag.

Die Anklage

Laut Staatsanwaltschaft kam es im Verlauf des 12. Dezember 2020 nach dem Konsum erheblicher Mengen Alkohol in Kleve zu Streitigkeiten zwischen der Angeklagten und ihrem langjährigen Lebensgefährten. Wie bereits in den Tagen zuvor sollen diese zunächst verbalen Streitigkeiten zwischen den Lebensgefährten schließlich in körperliche Übergriffe seitens der Angeklagten ausgeartet sein, in deren Verlauf sie gegen 16.45 Uhr ein Messer genommen und hiermit mit Tötungsvorsatz mindestens drei Mal wuchtig und gezielt auf den Oberkörper des Mannes im Bereich des Herzens eingestochen haben soll. Trotz einer umgehenden Notoperation im nahegelegenen Klever Krankenhaus konnte der Mann nicht gerettet werden und verstarb schließlich an dieser Verletzung.

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“Bitte?”

Frau Z. ist eine traurige Gestalt. Sie spricht so leise, dass selbst die Übersetzerin, die direkt neben ihr sitzt, immer wieder nachfragen muss. „Prosze?“ Das ist Polnisch und heißt „Bitte?“ Frau Z. hat den Vater ihres Kindes getötet. Der Junge ist sieben. Frau Z. wird ihn lange nicht sehen. Er lebt in Polen. Bei den Großeltern.

Entwurzelungen

Der erste Verhandlungstag ist mit Trauer gestrichen und erzählt von Entwurzelungen. Ein Paar, das sich in jungen Jahren kennengelernt hat. Frau Z. war 15. Was dann folgte: eine Art Höllenritt: on, off.
Immer wieder ist Alkohol im Spiel. Zuerst trinkt nur Gabriel. Dann auch Frau Z. Wenn sie sich nicht streiten, führen sie eine normale Beziehung, die irgendwann mit einem Kind möbliert wird. Frau Z. macht eine Entziehung mit, ist drei Monate trocken – dann entgleist ihr Leben wieder ins alte Muster.

On-Off

Irgendwann gelangen Gabriel und Frau Z. nach Deutschland. Sie haben sich bei einer Leiharbeitsfirma verdingt. Vielleicht muss die Geschichte einer Entwurzelung beschrieben werden. Frau Z. erzählt aus einem Leben, in dem Arbeitsverhältnisse von kurzer Dauer sind. Eine niederländische Firma ‚parkt‘ ihr Menschenmaterial in deutschen Wohnungen. Nicht nur Z.s Beziehung zu Gabriel – auch die Arbeitsverhältnisse folgen einem steten On-Off-Rhythmus. „Erzählen Sie von den Arbeitsverhältnissen, die länger als drei Monate gedauert haben“, bittet der Vorsitzende in der Befragung zur Person. Frau Z. überlegt. Sie findet nichts.

Ein Samstag

Gabriel und sie leben – zusammen mit anderen Landsleuten – in angemieteten Wohnungen. Wird jemandem gekündigt, bleiben zwei bis drei Tage zum Räumen der Bleibe. Die Tat geschah an einem Samstag. Einen Tag vorher hatten Gabriel und Frau Z. die Kündigung erhalten. Montags hätten sie aus der Wohnung gemusst.
„Fahren Sie mal zu der Adresse, wo das passiert ist“, sagt jemand auf dem Gerichtsflur. „Fahren Sie hin. Steigen Sie nicht aus.“

Tristesse

Während der Verhandlungspause: Ein Ausflug zur Tatortumgebung. Reise an einen tristen Ort. Schaut man auf die Nummernschilder der Autos, die dort geparkt sind, ist viel europäisches Ausland dabei. Alles hier wirkt einsam. Natürlich: Auch Tristesse ist keine Entschuldigung für eine Tat wie diese. Trotzdem fühlt man soziale Distanz. Irgendwie, denkt man, gibt es Katastrophen mit Ansage. Frau Z. und Gabriel lebten in einem Land, zu dem es keine Beziehung gab. Sie waren auf sich gestellt – sich gegenseitig ausgeliefert. Es soll häufiger Streit gegeben haben. Bereits am Tattag haben Zeugen das ausgesagt. Das Problem bei diesen Aussagen: Sie wurden nicht von einem vereidigten Dolmetscher aufgenommen, sondern von einem Herrn von der Leiharbeitsfirma, der Deutsch und Polnisch spricht. Die Verteidigung lehnt alle in diesem Zusammenhang gemachten Aussagen ab.

Return to Sender

Am Tatort – dieser Eindruck entsteht am ersten Verhandlungstag – sprach außer der Besatzung des Rettungswagens und den Polizisten – niemand Deutsch. Einige der Zeugen: nicht mehr auffindbar oder nicht willens, aus Polen anzureisen, um Dinge zu wiederholen, die sie der Polizei bereits am Tattag gesagt hatten. Einschreiben in die Niederlande erreichen die Adressaten nicht: Return to Sender.
Alles in dieser Geschichte ist flankiert von einer Kurzlebigkeit, die auch vor Gabriels Leben nicht Halt machen konnte. Keine 40 ist er geworden.
Frau Z. macht keine Angaben zum Tatgeschehen. In einem Satz der Erklärung, die Z.s Anwältin verliest, ist von einer Lücke die Rede: Die Tat ist der Z. abhanden gekommen. Alle anderen Angaben beziehen sich auf ihre Person: Kindheit, Eltern, Schule. Z. sagt, dass der Gabriel ihr fehlt. Er fehlt sehr. Die Verteidigerin liest das vor. Frau Z. ist aufgelöst.

Rudimentär

Ob sie sich eine Entziehung vorstellen kann, möchte der Vorsitzende von ihr wissen. Frau Z. möchte – dieser Eindruck entsteht – zurück in ihr Land. Nach der Unterbringung in einer Entzugsklinik sieht es nicht aus. Therapie braucht Sprache. Frau Z.s deutsche Sprachkenntnisse: rudimentär – bestenfalls. Sie wäre – dieser Eindruck drängt sich auf – ohne die Dolmetscherin rettungslos verloren. Frau Z. – eine Frau, die in den Trümmern des eigenen Lebens herumirrt.
Der Prozess wird am kommenden Montag fortgesetzt.

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