Das Ende der Freiheit oder: Messer am Hals

Drei Stunden

Es ist still im Saal A 105 des Klever Landgerichts, während zwei Pfleger, über ihr Leben sprechen. Es ist ein irgendwie schwer beschädigtes Leben – eines, in dem nichts ist wie es einmal war. Im vergangenen Jahr kam es in der Forensik der LVR-Klinik zu einer Geiselnahme und einer anschließenden Flucht, die für einen der beiden Ausbrecher in Aachen mit dem Tod endete. Drei Stunden dauern die Aussagen der beiden Pfleger. Drei Stunden beschreiben sie wie es ist, wenn man ein Messer am eigenen Hals spürt, wenn man Angst hat um das eigene (Über)Leben und das des Kollegen.

Alles irgendwie normal

Die Nachtschicht am 25. Mai des vergangenen Jahres begann ohne Zwischenfälle. Alles irgendwie ganz normal. Der Schrecken, denkt man, zeichnet sich auch dadurch aus, dass nichts auf ihn hindeutet. Beide Männer sind seit diesem Tag nicht zu arbeiten in der Lage – beide haben sich in therapeutische Behandlung begeben. „Wie geht es Ihnen heute?“, fragt der Vorsitzende und der erste der beiden sagt: „Nicht so gut.“ Es ist mit Händen zu greifen, wie dieses „nicht so gut“ zu werten ist. Es beschreibt ein sich nur langsam regenerierendes seelisches Trümmerfeld. Es beschreibt ein Dickicht, aus dem jederzeit die Dämonen dieses eines Tages hervorbrechen und den Opfern ihre Ohnmacht vor Augen führen können. Die Vergangenheit schleicht sich in den Saal. Sie klopft nicht an. Sie steht stumm da und droht. Sie ist ein Film, der immer wieder abläuft.

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Kein Zurück

Irgendwie steht für beide fest, dass sie nicht dahin werden zurückkehren können, wo sie zuletzt arbeiteten. „Ich war vorher Krankenpfleger“, erzählt der Erste der beiden. „Ich konnte diesen Beruf irgendwann nicht mehr machen. Es war unerträglich, die Menschen mit denen ich zu tun hatte, am Ende immer nur in den Tod zu entlassen.“ Dann der Wechsel – verbunden mit dem Wunsch, jetzt mehr helfen zu können. Die Tage, an denen sein Beruf ihm keine Freude bereitet habe – abzuzählen an den Fingern einer Hand. Alles zersägt an diesem einen Tag. Seitdem der Versuch, das Leben wieder in Ordnung zu bringen. „Zuhause habe ich alles umgebaut, was man umbauen kann.“ „Heute hier zu sein, ist bestimmt nicht einfach für Sie“, stellt der Vorsitzende fest und der Zeuge antwortet: „Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.“ Was so ruhig und überlegt scheint, kommt – es kann nicht anders sein – aus einer Seele, die nichts mehr hat außer dem Wunsch, „mit dieser Sache abzuschließen“. Man ist erschüttert und gleichzeitig voll Achtung für diese beiden Pfleger. „Ich kann nicht dahin zurück. Man kann nur einmal im Leben so viel Glück haben.“ Ein Satz, der sich eingräbt.

Man kann das nicht entschuldigen

Als die Verteidigerin den Ersten fragt, ob er sich eine Entschuldigung ihres Mandanten anhören möchte, ist die Botschaft deutlich: „Was er getan hat, kann nicht entschuldigt werden.“ Er hoffe, dass der Angeklagte seine Schuld annehme, sagt der Pfleger, bevor er den Saal verlässt.
Dann: sein Kollege, K.. Es geht ihm ähnlich. Immer wieder läuft dieser Film ab. Die „Vorführtermine“: nicht kalkulierbar. Mit ihm sind die Täter durch die Schleuse nach draußen. Immer habe er an den Kollegen gedacht, der oben eingesperrt war. Dem Pförtner habe er gesagt, er bringe mit zwei Patienten den Müll raus. Er habe dem Pförtner nicht die Wahrheit sagen können. Einen Pakt mit dem Teufel habe er geschlossen. Einer der beiden Täter – es ist der, den man später erschießen wird – habe mehrmals gesagt: „Ich gehe nicht zurück. Eher lasse ich mich erschießen.“ K. wertet es so: „Das hatte etwas Abschließendes.

Das letzte Blinken

Als er mit den beiden Ausbrechern vor der letzten Schleuse auf das Öffnen wartet und das Blinklicht der Klingelanlage sieht, „da habe ich gedacht, dass dieses Blinklicht vielleicht das Letzte ist, was ich sehe.“ K. geht mit den beiden Tätern zur Mülltonne. Dann biegen die beiden ab, K. geht zurück zur Schleuse. All das ist von Kameras festgehalten worden, aber die Bilder können nichts erzählen von dem Schrecken, den K. durchlebt haben muss. All das dauerte 15 Minuten – 20 vielleicht. All das wurde zur Ewigkeit der Ohnmacht.

Rangieren

Die Täter flüchteten mit dem Auto von K.s Kollegen L.. Das Ausparken – einer der Filme zeigt es – beginnt mit einem irrtümlichen Vorwärtsfahren. Dann legt der fahrende Täter den Rückwärtsgang ein, fährt den Wagen aus der Parklücke … der PKW verschwindet irgendwann in der Dunkelheit.
L. bekommt das Fahrzeug erst Wochen später zurück. In einer Seitenablage der Beifahrertür findet er das selbst gebastelte Messer, das die Täter an K.s Hals gehalten haben. Die Tat kehrt zurück und mit dem Fund drängen sich Fragen auf: „Macht die Polizei so ihre Spurensicherung?“ K.s Kollege L. muss sich auch mit der Bürokratie auseinandersetzen: Die Täter sind auf ihrer Flucht durch die Niederlande mehrfach „geblitzt“ worden. L. bekommt die Knöllchen. „Ich war lange sehr dünnhäutig“, sagt L. und sein Kollege K. kann noch immer nicht verstehen, dass jemand sich das Recht nimmt, andere mit dem Tod zu bedrohen.

Verantwortung

„Ich habe kein Feindbild“, sagt er, „Ich hoffe, dass der Angeklagte die Verantwortung für das übernimmt, was er getan hat. Ich hoffe, dass er nie wieder zur Gefahr für andere wird.“ Was K. sagt – wie er es sagt: all das ist keine Racheansprache. War es auch bei L. nicht. Auch K. möchte keine Entschuldigung vom Angeklagten. Man könne, sagt K., nicht ungeschehen machen, was da passiert ist.
Man möchte sich verneigen vor den beiden. Man wünscht ihnen, dass ihr Leben wieder normal werden kann. Aber gibt es eine Normalität?

Andere Fragen

Der Tag ist aber auch anderen Fragen auf der Spur: War der Angeklagte – so hat er es am ersten Verhandlungstag dargestellt – betrunken? Er will Alkohol getrunken haben – aufgesetzt von einem Mitpatienten. Den beiden Pflegern ist nichts aufgefallen. Während sie das sagen, ringt sich der Angeklagte beide Mal ein irgendwie spöttisch aussehendes Lächeln ab.

Ein Trinkgelage?

Ein weiterer Zeuge wird vernommen. Aus der Justizvollzugsanstalt Hagen hat man ihn gebracht. Er entwirft das Gemälde von einem mehr oder weniger wüsten Trinkgelage. Man habe, sagt er, schon beim Ausparken des Wagen gesehen, „dass die beide ziemlich betrunken gewesen sind. Der Wagen wurde drei oder vier Mal rangiert: vor, zurück – vor, zurück. Das haben alle gesehen. Ist doch klar, dass die beiden betrunken waren.“ Der Vorsitzende führt nochmals eine der Videoaufnahmen der Flucht vor. „Man hat nicht oft Gelegenheit, einen Zeugen live der Lüge zu überführen.“ Wieder das Auto: Einmal setzt der Fahrer vor. Dann in einem Zug zurück – hinaus aus der Parklücke und auf und davon. „Ich habe Sie mehrmals gefragt, ob es so war, wie Sie das beschrieben haben“, sagt der Vorsitzende. Man spürt, dass er ungehalten ist – dass er, was ihm da erzählt wird, für eine Art Gefälligkeitsaussage hält, die einzig dazu dienen soll, dem Angeklagten quasi auf Augenzeugenbasis die Verminderung der Steuerungsfähigkeit zu attestieren. Es ist nicht die einzige Asynchronität in der Aussage des Zeugen, der sich zunehmend in Widersprüchen verheddert und schließlich den Zeugenstand verlassen darf. Seine Aussage: ein Bärendienst. Im Kopf hat man noch immer die Geschichte der beiden Pfleger in ihrem beschädigten Leben.

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