Erst den Glauben, dann bisheriges Leben verloren

    Eine Frau berichtet von den Schwierigkeiten weiterzuleben, sobald man als Mitglied der Zeugen Jehovas die Lehren in Frage stellt

    NIEDERRHEIN. Leserbriefe aufgrund von Berichterstattung sind für mich als NN-Redakteurin nichts Ungewöhnliches. Doch dann kam eine Reaktion, die mich sehr berührte: „Es geht um Ihren Artikel über die Zeugen Jehovas und deren momentanen Aktivitäten. Ich bewundere es, dass Sie unvoreingenommen über jede Religion berichten möchten. Wie soll ich es nur sagen….diesen Bericht empfand ich eher als Werbung für die Glaubensgemeinschaft. Und dies halte ich für sehr gefährlich.“

    Das wirft natürlich Fragen auf. Antworten habe ich inzwischen viele erhalten, musste aber akzeptieren, dass die Mitvierzigerin in diesem Artikel anonym bleiben will (Name liegt der Redaktion vor).

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    Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Religionsgemeinschaft. Die Mitglieder gehen aktiv auf Menschen zu, um mit ihnen über die Bibel zu sprechen
    Foto: adobe stock

    Seit zwei Jahren ringt sie mit sich, stellt die Lehren der Zeugen Jehovas in Frage. Dabei hat sie diese quasi von ihren Eltern „geerbt“. Sie ist damit groß geworden, hat ihr Leben darauf abgestellt, ohne Wenn und Aber.

    „Damit wir uns richtig verstehen, die Zeugen Jehovas sind nicht grundsätzlich böse Menschen. Sie sind liebenswürdig, sie leben Gemeinschaft, in der man sich wohl fühlt.“ , bricht sie die Lanze für ihre Familienmitglieder, Freunde und Zugehörige der Glaubensgemeinschaft.
    Sie weiß, dass diese Menschen einstehen für ihren Glauben, weil sie denken, das Richtige zu tun.

    “Ich wurde in einen Kult hineingeboren”

    „Ja, bis vor circa zwei Jahren dachte ich doch ebenso. Ich dachte wirklich, dass Zeugen Jehovas die einzig wahre Religion sind. Ich dachte, dass Homosexualität eine Sünde ist, dass Bluttransfusionen verboten sind und Gott bald eingreift und alle bösen Menschen vernichtet. Ich glaubte, dass Evolution eine Lüge ist“, gibt sie heute zu und ist bemüht zu erklären, wie sie so etwas nur glauben konnte. „Ich wurde in einen Kult hineingeboren. Mir wurde etwas übergestülpt, was ich – hätte ich es in seiner gesamten Tragweite oder seinem Hintergrund erkannt – gar nicht haben wollte.“
    Doch als sie sich näher mit der Lehre auseinandersetzte, wurde ihr bewusst, dass die Zeugen Jehovas ein Kult sind, bei dem die gleichen Mechanismen greifen wie zum Beispiel bei Scientology. „Für mich brach mein gesamtes Weltbild zusammen“, blickt sie zurück. Sie wollte für sich einen Neuanfang, ein selbstbestimmtes Leben, in dem sie frei entscheiden kann, was sie denkt, wie sie sich verhält, wie sie leben möchte.

    Es bedeutet den sozialen Tod

    Jedoch mit dem Bruch würde sie gleichzeitig alles verlieren, was bisher ihr Leben ausgemacht hat. Sie muss befürchten, dass ihre Familie den Kontakt abbricht. „Als sogenannte Abtrünnige würde ich ausgeschlossen, komplett isoliert. Es ist der soziale Tod. Selbst die Eltern würden den Kontakt abbrechen. Das würden sie aus Liebe tun, weil sie glauben, dass ich als Abtrünnige nicht gerettet werden kann. Die Zeugen Jehovas glauben, dass Gott an einem festgesetzten Tag, dem Hamagedon, alle Menschen vernichtet, die sich nicht den Zeugen Jehovas angeschlossen haben.“
    Im Fall dieser Frau haben sich ihre engsten Familienmitglieder ebenfalls von den Zeugen Jehovas abgewandt, aber nur insofern, dass sie den Versammlungen fernbleiben. Durch die Corona Pandemie fällt das momentan gar nicht so sehr auf.
    Wie es weiter geht? Das wird ein hartes Ringen werden. Die Tochter des Hauses, die bereits offener mit ihrer Einstellung umgeht, wird schon gemieden von ihren einstigen Freunden und offen gestalkt auf Instagram.

    Verlustängste und Selbstzweifel

    Ihre Mutter kämpft noch mit sich. „Bei jedem Gewitter habe ich gedacht, jetzt ist der letzte Tag, nun werde ich nicht überleben, weil nur die Zeugen Jehovas ins Paradies kommen. Das ist so tief in mir drin, dass ich mich lange nicht gegen diesen Gedanken wehren konnte“, beschreibt sie ihren Gemütszustand, der von anderen so wenig nachzuvollziehen ist.
    Wie kann eine toughe Frau, die im Berufsleben ihren „Mann“ steht und scheinbar ein „normales“ Leben führt, sich so manipulieren lassen? Darauf gibt es keine klare Antwort. Bewusstseinskontrolle von klein auf ist sicher eine Begründung. Verlustängste und Selbstzweifel bei kritischen Gedanken kommen hinzu.

    Ohne Therapie ist ein Ausstieg kaum zu schaffen

    Alleine kann sie den kompletten Ausstieg nicht schaffen. Noch fühlt sie sich wie eine Verräterin, hat Angst und Schuldgefühle. Sie hat therapeutische Unterstützung, um ihr neues Leben zu meistern. Die junge Frau  ist noch nicht so weit, mit allen (und erst recht nicht mit ihrer Familie und der Verwandtschaft) zu brechen. Aber sie möchte warnen: „Es gibt so viele Ungereimtheiten in den Lehren der Zeugen Jehovas. Dank Internet kann man vieles recherchieren und Unwahrheiten der Lehre aufspüren. Ich empfehle da die Seite https://www.jwinfo.de“. Heute weiß sie, dass nicht Jehova alles richten wird in ihrem Leben, sondern dass sie es selbst in die Hand nehmen muss.

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