Augen für die Leitstelle

In der Leitstelle des Kreises Kleve arbeiten 25 Disponenten im Schichtdienst. Disponenten sind die Menschen am Ende eines Notrufes. Teil ihrer Aufgabe ist es, in kürzester Zeit lebenswichtige Entscheidungen zu treffen. Rund 450 Telefonate gehen täglich in der Kreisleitstelle ein – circa 150 davon sind Notrufe. Das, was man unter dem Namen Kreisleitstelle kennt, heißt eigentlich „Einheitliche Leitstelle für den Brandschutz, die Hilfeleistung, den Katastrophenschutz und den Rettungsdienst des Kreises Kleve“.

Zweimal Eins, einmal Zwei

Vielleicht sollte man mit Zahlen operieren. Zweimal Eins, einmal Zwei: 112. Für die Disponenten in der Leitstelle geht es nicht selten um Sekunden. Rettung muss schnell gehen und je besser ein Disponent weiß, was Sache ist, um so genauer und zielgerichteter kann die Leitstelle reagieren. Wenn jemand zum Arzt ginge und sagen würde: „Mir tut da was weh“, wäre die Diagnose ein weiter Weg. Wo tut‘s denn weh? Ständig? Oder nur hin und wieder? Ähnlich läuft es bei der Leitstelle.

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Strukturiert

Die großen W‘s sind abzuarbeiten: Wo, was, wer, wie. Früher wurde das dem Anrufer überlassen – heute wird eine „strukturierte Notrufabfrage“ geführt. Der Disponent ist Regisseur im Dialog. Dadurch lässt sich die Effektivität erhöhen und im Zusammenhang mit einem Notruf bedeutet Effektivität Hilfe, Lebensrettung. Und was, wenn bei einem Unfall irgendwo auf der Landstraße ein Ortsunkundiger nach dem Wo gefragt wird? Wenn der Zustand des Unfallortes oder der Verletzten beschrieben werden soll? Kann schwierig sein.

Augen für die Leitstelle

Wenn „die Rettung Augen hätte“, wäre es unter Umständen einfacher. Eben das muss der Ausgangsgedanke gewesen sein, als EmergencyEye erfunden wurde. Michael Welbers ist seit 2017 Leiter der Kreisleitstelle Kleve. Er ist das, was man technikaffin nennen würde. Als er zum ersten Mal von EmergenyEye hörte, war irgendwie klar: „Das brauchen wir. „Seit Februar 2019 ist EmergencyEye im Kreis Kleve im Einsatz.

Orwell?

Ja – irgendwo weit hinten im Kopf – hat man Orwell: Die Kamera im Leben. Das Leben in der Kamera. Dann erzählt Welbers und die Welt dreht sich. EmergencyEye ist keine App. „Apps sind oft an Sprachen gebunden, und genau das wollen wir vermeiden. Eine App musst du auf dem Smartphone haben. Tritt ein Notfall ein, ist keine Zeit, erst im Play- oder Appstore was runterzuladen und zu installieren.“ Wohl wahr. Noch mal: Bei einem Notruf geht es (fast immer) um Zeit. Nicht immer gilt „Zeit ist Geld“ – manchmal muss man ‚Geld‘ durch ‚Leben‘ ersetzen.

SMS ist unterwegs

Beispiel? Jemand ruft die Leitstelle an. Ein Unfall ist passiert. Aber wo befindet sich der Unfallort? Der Anrufer kennt sich nicht aus, ist aufgeregt. Der Disponent am Telefon würde jetzt dem Anrufer eine SMS schicken. „Darin enthalten ist ein Link, den der einfach anklickt. Der Browser des Smartphones öffnet sich und der Anrufer kann nun entscheiden, ob er die Ortungsfunktion seines Smartphones freigibt – und… die Kamera.“ All das ist kein Muss. Und: Nichts wird gespeichert. Es geht um schnelle Hilfe, schnelle Entscheidungen.

Der rettende Blick

„Wir hatten einen Unfall mit einem Radfahrer. Der Anrufer war nicht sicher, wie schwer der Radfahrer verletzt war. Meinte, es sei so weit nichts zu sehen.“ Als die Leitstelle über Kamera den Verletzten in Augenschein nahm, stellte sich schnell heraus: Er blutete aus dem Ohr. Klassisches Indiz für eine eventuelle Schädelverletzung. „Das ändert natürlich alles. Ein Radfahrer mit Schürfwunden – das ist ein Fall für den Rettungswagen. Eine Schädelverletzung bedeutet: schnelles Handeln. Rettungshubschrauber.“

Wissen hilft

„Je mehr wir wissen, um so strukturierter kann geholfen werden“, sagt Welbers. „Aber nicht nur das ist möglich: Mit EmergencyEye könnte auch aus der Ferne eine Reanimation unterstützt und angeleitet werden.“ (220 Mal pro Jahr geht es allein bei der Klever Leitstelle um Notrufe, im Zusammenhang mit einer Reanimation.)

Herzstillstand

Welbers: „Bei circa zehn bis 15 Prozent dieser Anrufe geht es am Ende tatsächlich noch um eine erfolglose Reanimation.“ (50.000 Mal pro Jahr ereignet sich in Deutschland ein Herzstillstand außerhalb eines Krankenhauses.) „Durch EmergencyEye können wir uns in der Leitstelle ein präziseres Bild von der Lage vor Ort machen“, sagt Welbers. Das kann am Ende einen entscheidenden Unterschied(sprich: Vorteil) bedeuten.

Kein Gaffer

„Natürlich kann es sein, dass man jetzt also an einer Unfallstelle jemanden sieht, der mit dem Smartphone Aufnahmen macht. Aber es lässt sich sehr schnell feststellen, ob da jemand mit EmergencyEye arbeitet oder ob es sich um Gaffer handelt“, so Welbers. Die Kameraverbindung würde ohnehin beim Eintreffen von Polizei oder Rettungskräften sofort gekappt.

4 Cebt pro Bürger pro Jahr

Angeboten wird EmergencyEye von der Firma COREVAS. Und wie teuer wäre so etwas? Jürgen Baetzen, Leiter des Fachbereichs 7 (Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz) beim Kreis Kleve: „EmergencyEye kostet den Kreis 4 Cent pro Bürger pro Jahr.“ Das sind rund 12.500 Euro pro Jahr. Das klingt gut.
Noch mal: Dass per EmergencyEye der Standort des Anrufers abgefragt werden kann, ist vor allem dann wertvoll, wenn Orts-Unkundige einen Notruf absetzen. Jürgen Baetzen: „Ein Notruf führt erst dann zum Erfolg, wenn der Disponent einen Standort kennt.“

Fünf Leitstellen

Natürlich kann es Leute geben, die bei der Frage nach der Freigabe der Handy-Kamera „Bauchschmerzen“ bekommen, aber: nichts muss, alles kann. Und: Die Daten werden nicht aufgezeichnet.
Günter Huhle von EmergenyEye: „Derzeit arbeiten bereits fünf Leitstellen in Nordrhein-Westfalen mit EmergencyEye, dazu kommen zwei Einrichtungen in der Schweiz.“ Zuletzt hat Corevas einen Patentantrag gestellt, „und wie es aussieht, haben wir damit einerseits Erfolg und andererseits dann auch ein Alleinstellungsmerkmal, denn in Kürze wird EmergencyEye zusätzlich zur Ortungs- und Kamerafunktion einen Live-Chat erhalten, was enorm wichtig ist, wenn die Leitstelle es mit einem Gehörlosen zu tun hat. Dazu kommt noch die Funktion einer Simultanübersetzung.“

Im Gespräch

Auch das kann entscheidend sein, wenn Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, einen Notruf absetzen. „Wir sind im Gespräch mit Leitstellen und Ministerien. Längst ist natürlich auch das Innenministerium in NRW auf EmergencyEye aufmerksam geworden“, so Huhle.

Vergangenheit

Kaum vorstellbar: Bis zum Jahr 1973 existierte in Deutschland keine einheitliche Notrufnummer. So konnte es passieren, dass es eine Stunde dauerte, bis ein Rettungswagen vor Ort war, weil Unfallmelder nicht wussten, unter welcher Nummer sie Hilfe rufen konnten.
Während es in Deutschland zwei Nummern (110 Polizei) und 112 (Rettungsdienst) gibt, ist die europaweit einheitliche Notrufnummer die 112. Welbers: „So kann es beispielsweise passieren, dass jemand, der ein rumänisches Smartphone besitzt und die 110 wählt, trotzdem bei uns in der Leitstelle landet, denn in den Smartphones ist bei vielen Ländern nur die 112 hinterlegt.“
Der Link, den ein Anrufer per SMS erhält, ist übrigens nur einmal gültig.

Quelle: EmergencyEye

 Infos rund um EmergencyEye

EmergencyEye erlaubt den Disponenten den Fernzugriff auf Smartphonefunktionen des Anrufers, ohne dass eine Vorinstallation auf dem Smartphone des Anrufenden notwendig ist.
Nach Zustimmung durch den Anrufenden kann der Disponent wahlweise eine stabile Live-Video Verbindung aufbauen und ab dem 1. Januar eine Chat-Funktion mit Übersetzung zu Überwindung von Sprachbarrieren aktivieren. Des Weiteren kann der Anrufer jederzeit lokalisiert werden. Hierdurch bestimmt der Disponent den Informationsfluss während Persönlichkeitsrechte und Datensicherheit bewahrt sind. EmergencyEye

Das Verfahren ist in sieben Schritte unterteilt: 1. Telefonverbindung zwischen Smartphone und Leitstelle. 2. Disponent entscheidet über den Einsatz von EmergencyEye und schickt SMS-Link. 3. Sichere Datenverbindung nach Aktivierung des Links. 4. Optionale Live-Video-Verbindung. 5. Optionale Lokalisierung des Smartphones. 6. Optionaler Chat mit Übersetzung. 7. Video-unterstützte Anleitung.

Datenverbindung

EmergencyEye erfordert eine Datenverbindung und somit eine Internetverbindung aus der Leitstelle und eine Browserzugang. Seitens Notrufenden ist eine Datenverbindung und zumindest ein 3G Mobilfunktnetz erforderlich. Somit stünde EmergencyEye schon heute in mehr als 85 Prozent aller Fälle sofort zur Verfügung. Die Installation von EmergencyEye in die Leitstelle dauert nur Minuten.

Akku

Übrigens: Bereits nach Aktivierung von EmergencyEye wird der Akkufüllstand des Smartphones angezeigt. Der Disponent kann somit jederzeit entscheiden, die Datenübertragung abzubrechen, um bei sehr niedrigem Akkustand zumindest die Telefonverbindung aufrecht zu erhalten, oder andere anwesende Personen um Unterstützung mit weiteren Smartphones auffordern.

Im Team

Wer übrigens die Internetseite https://emergencyeye.de ansteuert, findet (weiter unten auf der Seite) Angaben zum Team. Dabei ist auch: Michael Welbers. „Michael Welbers ist unser Datenschutzbeauftragter, leitet unser Qualitätsmanagement und unterstützt uns mit seiner technischen Expertise. Michael ist mehr als 24 Jahre Feuerwehrmann, leitete seit 2006 die gesamte Technik (inclusive aller Server und Schnittstellen) und seit 2012 das Qualitätsmanagement der Kreisleitstelle Kleve. Im Jahr 2017 übernahm er die Leitung der Leitstelle“, heißt es in einem Info-Text zur Person. Außerdem im Corevas-Team: Richard Josef Weinmann (strategische Partnerschaftsentwicklung), Christoph Beck (Elektroingenieur), Frederic Weichel (IT-Experte), Benedikt J. Huhle Mitbegründer, technische Expertise).

EU-Health

Die Entwicklung von EmergencyEye wurde durch das EIT-Health, eine Initiative der EU-Kommission zur Förderung von Innovationen und Technologien in Europa, und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert.
Auf: https://gruender.wiwo.de/corevas-wir-machen-das-handy-zum-lebensretter-2/ sagt Investorin Anja Rath: „Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten auf einer Rettungsleitstelle. Es erreicht Sie ein Notruf, aber der Anrufer kann vor Aufregung kaum beschreiben, was los ist und weiß auch nicht, wo genau er sich gerade befindet. Das erschwert es, rasch Hilfe zu schicken und Leben zu retten. Unsere Software EmergencyEye erlaubt es Mitarbeitern in der Leitstelle, aufs Handy der Anrufer zuzugreifen, sofern sie damit einverstanden sind. Dadurch können wir per GPS den Ort bestimmen und uns via Kamera ein Bild der Lage verschaffen. Wir beschleunigen die Rettung, steigern die Überlebenschancen von Verletzten – und senken die Kosten von Sachschäden, etwa bei Bränden.“ Zitat aus: Elevator Pitch

Rettungswesen

In Deutschland ist das Notfall- und Rettungssystem flächendeckend aufgestellt. Es verspricht mit circa 250 Rettungsleitstellen und mehr als 1.800 Rettungswachen, Rettungseinrichtungen der Krankenhäuser und einem soliden Notarztnetz (mehr als 17.000 Notärzte) eine Versorgung von Patienten innerhalb der gesetzlich festgelegten Hilfsfristen.
Die Rettungsmittel und Leitstellen stehen unter hohem Druck wirtschaftlich zu arbeiten. Eine Fehldiagnoserate von bis zu 30 Prozent bei außerklinischem Herz-Kreislauf-Stillstand und eine Rate von bis zu 30 Prozent Fehleinsätzen, bei denen entweder nicht ausreichend oder zu viele Rettungsmittel eingesetzt wurden, erfordern eine Optimierung des Informationsmanagements in der Notfallkommunikation. Des Weiteren ist bereits vielfach in der Literatur beschrieben, dass der Ressourceneinsatz seitens der Rettungsmittel signifikant niedriger ist, wenn Menschen gut erstversorgt wurden.
Quelle: Corveas GmbH

 

Großübung für Einsatzkräfte. Foto: Kreis Kleve

Rettungsdienst Kreis Kleve im Internet

 

 

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