Wirklichkeitsillusionen

Theater hat zwei Perspektiven: Du schaust zu oder du machst mit. Natürlich gibt es eine dritte Perspektive: Du wechselst die Seiten – und eben das passiert bei „Zeit- Los“, einem Theaterstück mit der „Bürgerbühne Integrativ“, einer freien Theatergruppe des Theaters mini-art.

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Neun Monate
Neun Monate lang haben sich elf Menschen mit der Bühnen- und Autorenseite befasst und ein Stück geschrieben, das sie auch selber aufführen. Im Anfang war das Wort, und das Wort war „Zeit-Los“. Kaum lässt sich mehr Symbolkraft in einen Absatz packen. Neun Monate, die Schöpfungsgeschichte, ein Wort, das die Zeit verlieren (zeitlos) oder sie zur Herrscherin (Zeit-Los) machen kann.
Grenzerfahrungen bietet das Theater allemal – erst recht dann, wenn aus den „normalen Menschen“ plötzlich Theatermenschen werden. Lektion eins: Was ist schon normal. Lektion zwei: Theater braucht keine Inklusion, denn Theater ist Inklusion. Lektion drei: Grenzüberwindung ist – so scheint es – nichts für die Herren: Elf Teilnehmerinnen, ein Teilnehmer.

Aus dem Schatten ins Licht
Der Weg vom Zuschauerraum auf die Bühne ist – übertragen und im Wortsinn – ein Weg aus dem Schatten ins Licht. „Zeit-Los“ ist – man merkt das schnell – ein sehr persönliches Stück Theater. Ist Theater nicht immer persönlich? Die Antwort: Ja, aber. Natürlich lebt das Theater immer vom Persönlichen, aber das ist oftmals verborgen hinter dem Großenganzen, den Geschichten, der Dramaturgie. Schauspieler werden zu Instrumenten des Theaters zu Achsverlängerungen den Textes in den Raum. Den Schauspielern bei „Zeit-Los“ ist anzumerken, dass sie sich in den eigenen Leben bewegen, bedienen und neu erfahren.

Lebenscollage
„Zeit-Los“ ist eine Bühnenassoziation, eine Lebenscollage, eine Wirklichkeitsillusion und Illusionswirklichkeit. „Zeit-Los“ erzählt von den Möglichkeiten des Theaters, das am Ende immer eine Koproduktion, eine Koexistenz ist.
Jeder muss eintauchen ins Leben der anderen – etwas von deren Rhythmus erfassen und aufnehmen. Da spielt es am Ende eben keine Rolle mehr, ob jemand „einen inklusiven Hintergrund“ hat oder nicht. Theater ist das Meistern einer an alle Teilnehmenden gerichteten Herausforderung. Theater macht Grenzziehungen unmöglich, weil es von Grenzerfahrungen handelt.
Was bei „Zeit-Los“ im Rahmen einer neunmonatigen „Theaterschwangerschaft“ quasi aus dem Nichts entstanden ist, kann sich sehen lassen. Natürlich werden bei Projekten wie diesem „ordnende Hände“ gebraucht. Es braucht eine Dramaturgiezentrale außerhalb der eignen Biografien. Es braucht Theatererfahrung, aus den Fragmenten ein Ganzes zu machen. Crischa Ohler und Sjef van der Linden vom Theater mini-art bringen eben diese Erfahrungen mit.

Ein Bild im Kopf
Für die beiden ist es das fünfte Projekt dieser Art. Sie wissen, wovon sie reden und das merkt man „Zeit-Los“ an. Irgendwo im Unsichtbaren laufen Fäden zusammen – sind Bilder erfunden worden wie das der Anfangsszene, in der – begleitet von Wortassoziationen vom Band – die Truppe aus einer Leinwand zu wachsen scheint und so einen dieser wunderbaren Theatermomente schafft, die man am Ende im Kopf behält. Es ist ein Moment, der alles zusammenfasst, denn er erzählt wie Menschen aus der Projektionsfläche ins Eigentliche geraten – wie aus der Illusion Wirklichkeit wird: Theaterwirklichkeit.Heiner Frost

Aufführungen
„Zeit-Los“ ist zu sehen am Samstag, 25. Mai, um 18 Uhr, am Samstag, 1. Juni, um 18 Uhr, am Sonntag, 23. Juni, um 16 Uhr und am Samstag, 7. Juli um 18 Uhr. Karten kosten 9 Euro (ermäßigt 6 Euro). Alle Vorstellungen finden im Theater mini-art, Brückenweg 5, in Bedburg-Hau statt.

mini-art im Netz:
https://www.mini-art.de/

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