Totschlag am Tulpensonntag

KLEVE/EMMERICH. Vor der 4.  großen Strafkammer des Klever Landgerichts läuft derzeit ein Prozess, bei dem es um den Tod eines Mannes geht.
Angeklagt ist eine 30 Jahre alte gelernte Altenpflegerin. Ihr wird vorgeworfen, am Tulpensonntag (15. Februar) dieses Jahres „im Rahmen einer Auseinandersetzung ihren Lebensgefährten durch einen Messerstich ins Herz vorsätzlich getötet zu haben“. Die Anklage lautet auf Totschlag. Staatsanwalt Nico Kalb: „Sie haben einen Menschen getötet, ohne Mörder zu sei.“
Für den ersten Verhandlungstag hatte die Kammer unter Vorsitz von Ulrich Knickrehm „lediglich“ die Aussage der Angeklagten geplant, die von zwei Verteidigern vertreten wird. Nachdem der Vorsitzende Richter die Angeklagte darüber belehrt hat, dass sie keinerlei Angaben (auch nicht zur Person) machen müsse, erklärte die Angeklagte, dass sie Angaben machen wolle.
Schon vor Beginn der eigentlichen Verhandlung wurde die junge Frau von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt. In den dann folgenden gut dreieinhalb Verhandlungsstunden musste die Aussage mehrfach unterbrochen werden. Ulrich Knickrehm: „Sagen Sie uns einfach, wenn es nicht mehr geht. Wir unterbrechen dann.“
Die Angeklagte beschrieb, vom Vorsitzenden Richter sensibel geführt, ihr Leben. Ihr Vater sei Alkoholiker. Ihre Mutter habe sich kaum für die Tochter interessiert. „Ich bin dann schnell auf die Sonderschule gekommen.“ Das Rechnen habe ihr Probleme bereitet, so die Angeklagte. Richter: „Sind Sie zuhause auch geschlagen worden?“ Angeklagte: „Einmal. Ich hatte Probleme mit einer Rechnaufgabe und habe meinen Vater um Hilfe gebeten. Da hat er mich geschlagen.“
Die Angeklagte kommt früh mit dem Jugendamt in Kontakt, lebt in verschiedenen Pflegefamilien und Wohngruppen. Immer wieder „ritzt“ sie sich. Die Angeklagte bekommt ein erstes Kind, das sie später in eine Pflegefamilie gibt. Ihr Leben ist von häufigen Wohnortwechseln geprägt. Sie wächst zunächst in Braunschweig auf („Mein Vater hat im VW-Werk gearbeitet), wohnt danach in Hildesheim und Göttingen und zieht – mittlerweile hat sie einen zweiten Sohn – im Dezember nach Emmerich, um dort mit dem späteren Opfer, dessen beiden Söhnen und ihrem eigenen Sohn in einer Dreizimmerwohnung zu leben. Das spätere Opfer lernt die Angeklagte bei Facebook kennen. Zunächst schreibt man sich – es folgen Telefonate und schließlich ein erstes Treffen. In ihrem gelernten Beruf (Altenpflegerin) hat die Angeklagte nie gearbeitet. Immer wieder wird sie vom Vorsitzenden gefragt, was sie den ganzen Tag gemacht habe. Einmal antwortet sie: „Ich war bei einer Stelle, wo Bewerbungen trainiert worden sind.“ Richter: „Aber doch nicht vier Jahre lang acht Stunden am Tag.“ Sie habe sich um Sohn und Haushalt gekümmert. „Aber Ihr Sohn war ja irgendwann im Kindergarten“, wendet der Richter ein.
Die Beziehung zum späteren Opfer habe schön angefangen. „Ich habe gedacht, das ist ein guter Typ. Der arbeitet, kocht und kümmert sich um den Haushalt.“ Nach und nach tauchen Probleme auf. „Der Tim hat gesagt, dass er sich umbringt, wenn ich ihn verlasse.“ Im Partykeller habe ihr Freund abends „heimlich Bier getrunken. Eine Kiste am Tag.“ Richter. „Der stand morgens um vier auf, ging zur Arbeit, kam gegen 18 Uhr zurück. Das ist schwer vorstellbar. Wie viel hat er denn wirklich getrunken?“ Angeklagte: „Vielleicht vier oder fünf.“ Richter: „Und wie viel Flaschen  sind in einem Kasten?“ Angeklagte: „Zehn oder 20.“ Richter: „Der Tim kann sich ja nicht mehr wehren.“
Ob sie selber getrunken oder Drogen genommen habe? „Nein. Ab und zu etwas gegen die Kopfschmerzen.“ Richter: „Hatten sie oft Kopfschmerzen?“ Angeklagte: „Immer wenn ich nachgedacht habe.“ Richter: „Haben Sie oft nachgedacht?“ Angeklagte: „Jeden Tag.“ Sie habe immer öfter „innere Schmerzen“ verspürt, sagt die Angeklagte und meint ihre Seele. Einmal habe sie mit gepacktem Koffer „auf dem Hauptbahnhof“ [Emmerich] gestanden, aber es sei kein Zug dagewesen. Da habe Tim sie angerufen. „Ich habe ihm gesagt, dass ich am Hauptbahnhof bin, und er ist dann hingekommen.“ Tim habe sich dann auf die Gleise gestellt und gesagt, er werde sich erst von den Gleisen bewegen, „wenn du wieder mit zurück gehst“.
Einmal wird die Angeklagte von der Polizei betrunken auf der Emmericher Rheinbrücke aufgegriffen – ein Bein über dem Geländer. Sie wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und nach einer Woche in die Obhut ihres Freundes entlassen. Die Angeklagte und das spätere Opfer nehmen gegen Jahresende den aus einer psychiatrischen Klinik entlassenen Vater der Angeklagten mit in die Wohnung auf. Der ältere Sohn des späteren Opfers ist längst ausgezogen.
Fast drei Stunden hat das Gericht sich Zeit genommen, um „in der Nähe der Tat“ anzukommen. Die Angeklagte und das spätere Opfer sind am Tulpensonntag zu Freunden eingeladen. Vorher sehen sie sich den Tulpensonntagszug an. Beide trinken Alkohol. Vier Stunden nach der Tat wird bei der Angeklagten im Rahmen einer Blutprobe ein Wert von 0,84 Promille gemessen. Beim Opfer sind es 1,2 Promille. Im Lauf des Zuges möchte Tim von seiner Freundin einen Kuss. „Ich wollte aber nicht. Das ist ja nichts Schlimmes.“ Später sei sie, so die Angeklagte, von Tim noch „von hinten angefasst worden“. Die Stimmung ist schlecht. Bei der Party, zu der beide gehen, reden sie nicht miteinander. „Aber der Tim hat mit den anderen über unsere Beziehung geredet.“ Sie habe geweint, sei fertig gewesen und später, zunächst in Begleitung eines der beiden Söhne des Opfer nach Hause gegangen.
Kurz nachdem sie dort angekommen ist, trifft auch ihr Freund ein. Wieder wird die Angeklagte von einem heftigen Weinkrampf erschüttert. Sie habe keine Erinnerung an das, was geschehen sei. „Es tut mit alles so leid. Ich würde das alles so gern ungeschehen machen, aber das geht nicht. Ich habe jeden Tag diese Bilder im Kopf. Jeden morgen, wenn ich in den Spiegel schaue, sind sie da.“ Der Vorsitzende Richter versucht, sich ins Zentrum der Tat zu fragen. „Auch, wenn das blöd klingt: Ich erinnere mich nicht.“ Sie sei irgendwann aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer gerannt und habe ihrem Vater gesagt, er solle einen Krankenwagen holen. Dann sei sie zurück in Schlafzimmer, wo sich all das abgespielt habe. „Wie war das denn? Als sie herausgelaufen sind  – hat der Tim da noch gestanden? Und wie war es, als sie wieder zurück ins Schlafzimmer gingen?“ „Als ich ins Wohnzimmer ging, da hat er noch gestanden. Als ich zurück ins Schlafzimmer ging, da hat er schon gelegen und ich habe immer wieder gesagt: Du musst jetzt aufstehen. Steh bitte auf.“ Richter: „Da muss ja viel Blut geflossen sein.“ Angeklagte: „Alles war voller Blut.“ Richter: „Können Sie sich erinnern, dass Sie das Messer aus der Wunde gezogen haben?“ Teile der Antworten werden vom Schluchzen der Angeklagten „gelöscht“. Sie habe, sagt sie an einer Stelle, das Messer herausgezogen. Der Richter erwähnt, dass die Angeklagte bei der Polizei unterschiedliche Aussagen gemacht habe. Einmal sei davon die Rede gewesen, das Opfer habe sich den tödlichen Stich selbst beigebracht. Am Ende steht fest, dass es so nicht gewesen ist. Sie habe, so die Angeklagte, Angst gehabt. „Mir tut das alles so leid. Ich sehe ständig diese Bilder.“ Gegen 12.30 Uhr endet die Befragung der Angeklagten. Richter: „Haben Sie noch Fragen?“ Staatsanwalt, Verteidiger und Nebenklagevertreter haben keine Fragen. Heiner Frost

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