Dieses „Niemals“ gibt es nicht

NIEDERRHEIN.  „Am Ende der Zweifel“ ist Titel des 480 Seiten starken Buches von NN-Redakteur Heiner Frost, das jetzt in der edition anderswo erschienen ist. Ganz ohne Zweifel ein Buch, das Geschichten erzählt, das hinter die Kulissen blickt, das informiert und berührt. Keine leichte Kost. Das sollte man wissen. Es geht um Gerichtsverhandlungen, um Menschen, denen Prozesse gemacht werden und die Prozesse machen, um das Leben „hinter Gittern“, um die Frage nach Recht und Unrecht – und einiges mehr.

Bei deinem ersten Gerichtsprozess im Auftrag der Zeitung, das war im Jahr 2006, ging es um einen Mord in Straelen. Du sagst, du wolltest das eigentlich gar nicht machen. Und dann ist gleich ein 40-seitiges Werk daraus geworden, das damals auch in kompletter Länge unter dem Titel „Mordswut“ veröffentlicht wurde und das du beim Nannen-Wettbewerb für Journalisten eingereicht hast…
Frost: Da ging es um einen 18-Jährigen, der nachts auf offener Straße niedergestochen worden war. Das Tragische – der Täter hatte sich vertan. Eine Verwechslung. Das wurde damals auch bei Aktenzeichen XY im Fernsehen gebracht. Die Polizei hätte den Täter vielleicht nie dingfest machen können. 13 Monate nach der Tat hat er sich selbst gestellt – er war 17 und betrunken, als er sieben Mal zugestochen hat. Die Eltern des Ermordeten saßen im Gerichtssaal in einer Reihe mit den Eltern des Täters. Damals habe ich ihn an einer Textstelle schon als „Mörder“ bezeichnet, obwohl er noch gar nicht verurteilt worden war. Das würde mir heute nicht mehr passieren. Dieser Mordprozess hat mich nachhaltig beeindruckt. Damals habe ich begriffen, dass es vor Gericht nur Opfer gibt. Die einen ertrinken im Hass, die anderen im Schmerz – aber Opfer und Täter, die gibt es nur im juristischen Sinn.

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In den vergangenen Jahren hast du für die NN zahlreiche Prozesse begleitet. Klassische Gerichts-Reportagen sind das nicht. Das wissen – und schätzen – viele unserer Leser. Viele Texte gehen sehr nah, sind sehr emotional geschrieben. Wie sehr berührt dich die Berichterstattung, die ja letztlich Teil deiner Arbeit ist?
Frost: Wenn ich auf meinem Stammplatz im Gerichtssaal sitze, geht das mit dem Mitschreiben ganz wunderbar. Als ich letztens eine Lesung hatte, kamen mir allerdings – beim Lesen – die Tränen. Es gibt durchaus Prozesse, die einen nicht mehr loslassen. Viele schlimme Geschichten, die oft denselben Anfang haben. Ich sehe viel Unmenschliches – auf allen Seiten. Die Juristerei verkommt schnell zur Maschinerie. Und wenn da einer sitzt und schreibt, dann macht das einen Unterschied. Davon bin ich überzeugt. Mir graust es – auch heute noch – vor der verkürzten Berichterstattung. Da geht es um so viel für die Betroffenen. Da werden Weichen gestellt.  Da geht es um Leben und Tod. Da kann man nicht nur die Fakten sehen.

In „Am Ende der Zweifel“ gibt es aber auch einige Geschichten, die zum Schmunzeln bringen…
Frost: Wer als Schreiber auf der Suche nach Geschichten ist, der ist bei Gericht genau richtig. Beim Amtsgericht gibt es eher „kleine Portionen“. Oft verhandelt ein Einzelrichter bis zu sieben Sachen an einem Tag. Dafür ist die Berichterstattung beim Landgericht oft umständlich, weil man bei mehreren angesetzten Verhandlungstagen immer wieder alles neu erklären muss. Manchmal leiste ich mir den Luxus und schreibe verschiedene Versionen.

Viele Geschichten haben auch mit deiner Tätigkeit in der Justizvollzugsanstalt zu tun.
Frost: Ja. Schon vor der Sache mit den Gerichtsreportagen habe ich im Klever Knast die Gefangenen-Zeitung betreut. Die Jaily News. Karl Schweers, der damalige Anstaltsleiter, der heute Chef der JVA in Pont ist, hat mir damals den Job angeboten. Der Beginn einer langen Freundschaft – mit Karl einerseits und dem System Vollzug andererseits. Aber auch unter guten Freunden – und jetzt rede ich vom Vollzug –muss man nicht immer derselben Meinung sein. Dass ich sowohl im Gericht bin als auch im Knast ist ein Alleinstellungsmerkmal. Ich kenne wenige Journalisten-Kollegen, die auf beiden Seiten unterwegs sind. Es gibt immer zwei Seiten. Ich hoffe, das wird beim Lesen des Buches deutlich.

Es gibt einen Sponsor, der das ganze Projekt finanziert hat, aber anonym bleiben möchte. Finanziell gibt es für dich also kein Risiko. Was erhoffst du dir für „Am Ende der Zweifel“?
Frost: So ein Projekt kann schnell als große Eitelkeit des Autors gesehen werden. Das ist mir bewusst. Ich würde mir, rein wirtschaftlich betrachtet, wünschen, dass der Sponsor sein Geld wieder rausbekommt. Ich ganz persönlich würde mir wünschen, dass es etwas in den Köpfen der Leute verändert. Ich freue mich, wenn es bei den Lesern etwas bewirkt. Es wäre doch toll, wenn ein Jura-Professor das Buch seinen Studenten empfiehlt – einfach weil es eine ganz andere Sichtweise bietet. Vielleicht hilft es sogar, manche Dinge besser zu verstehen. Auch wenn es Sachen gibt, die man gar nicht verstehen will.

[quote_box_left]Lesungen
Mittwoch, 13. September, 19.30 Uhr im Foyer des Gocher Rathauses
Mittwoch, 4. Oktober, 20 Uhr in der Stadtbücherei in Rees
Mittwoch, 11. Oktober, 19 Uhr im Verlagshaus der NN in Geldern
Mittwoch, 8. November, 19 Uhr, Pop Bar Haldern
„Am Ende der Zweifel“, erschienen in der edition anderswo, ISBN 978-3-935861-44-1, 480 Seiten, Hardcover, 30 Euro[/quote_box_left]

Du sagt, du selbst hättest keine Richter-Qualitäten. In den ganzen Jahren hast du viele Verhandlungen gesehen. Gab es Momente, in denen du ganz anders entschieden oder zumindest eine Entscheidung ganz anders gefällt hättest?
Frost: Ich weiß noch, dass ich bei meinem ersten Prozess viele Dinge abartig fand. Da wurde vor Prozessbeginn auf dem Gang schon auf Urteil gewettet und es wurde von  den Medien zum Sturm auf den Angeklagten geblasen. Wer hat das beste Bild. Solche Sachen eben. Richtig schwer wird es, wenn das Menschliche auf der Strecke bleibt. Das ist ja keine Personality-Show oder Stand-up-Comedy. Da geht es um so viel. Manchmal machen die Richter und Staatsanwälte auf mich den Eindruck der Leichtfertigkeit. Vielleicht ist das aber auch ihre Art, mit Tragweiten umzugehen ohne durchzudrehen. Das alles sind natürlich ganz subjektive Wahrnehmungen. Vielleicht wirkt es nur auf mich so. Ich bin eigentlich am Ende jedes Prozesses froh, dass ich nicht derjenige bin, der das Urteil zu fällen hat. Ich könnte das nicht. Aber ich kann beobachten und beschreiben und ich bin sicher, dass es in einem Prozess einen Unterschied macht, ob einer von uns Journalisten dabei ist oder nicht. Eines habe ich in jedem Fall verstanden: Wer sagt, dass ihm all das nicht passieren könnte, der lügt oder schätzt sich zumindest falsch ein. Dieses „Niemals“ gibt es nicht. Jeder Mensch kann, wie auch immer, in so eine Situation geraten.

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