Der Verlust des Normalen

Das Urteil kommt nach fünf Stunden Verhandlung: Sechs Jahre, zehn Monate. Der Haftbefehl bleibt aus Gründen seiner Anordnung in Vollzug.

Ein 23-Jähriger hat eine 16-Jährige vergewaltigt. Eine Stunde lang war das Mädchen in seiner Gewalt, war ihm ausgeliefert. „Ich stech‘ dich ab“ – das war die Drohung. Man kann nur ahnen, wie sich die 60 Minuten für das Mädchen angefühlt haben. Nein – um ehrlich zu sein: Man kann das nicht ahnen. Vielleicht kann man ahnen, wie sich die Eltern des Mädchens fühlen – wie die Ohnmächtigkeit an ihnen zerrt und die Seelen zerreißt.

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Wut und Ohnmacht

Zu Prozessbeginn sitzt die Mutter des Mädchens im Saal. Sie sitzt neben der Anwältin, die die Nebenklägerin – das Opfer also – vertritt. Als der Angeklagte gebracht wird, trifft auch der Schmerz ein und man fragt sich nach den Leiden, die hier verhandelt werden. Man kann sich an die Stelle der Eltern fühlen: Wut und Ohnmacht türmen sich auf.

Völlig absurd

Da fängt sich ein Mann – es ist nach Mitternacht – ein Mädchen von der Straße. Man kann das nicht anders beschreiben. Draußen regnet es: die Nacht ist mit Tränen tapeziert. Der Mann vergewaltigt das Mädchen – nicht nur einmal. Man mag nicht schildern, was diesem Mädchen passierte – was sie, ohne eine Chance zu haben, über sich ergehen lassen musste. Vorher hat der Mann sie nach ihrem Namen und ihrem Alter gefragt. Das wirkt völlig absurd. Man versteht es nicht. Kann nicht verstehen. Will nicht verstehen. Als der Täter fertig ist mit seinem Opfer, lässt er das Mädchen gehen. Da steht eine Verwundete auf regennasser Straße und hält ein Auto an … Ein Fahrer als Ersthelfer.

Ein Häufchen Elend

Jetzt sitzt der junge Mann da: ein Häufchen Elend – einer, dem (wer will das beurteilen?) Leid zu tun scheint, was er tat; einer, der sich schämt – den Blick nicht heben kann, um denen in die Augen zu sehen, deren Leben er betreten und zerstört hat. Immerhin: Der junge Mann leugnet nichts. Er habe, sagt er, getrunken. Im E-Dry ist er gewesen. Mit Freunden. Wann ihm die Idee zur Tat gekommen sei, möchte die Vertreterin der Nebenklage wissen und der junge Mann zuckt mit den Schultern. Er weiß es nicht.

Ideengesteuert?

Hier ist nicht nur einem jungen Mädchen das Leben abhanden gekommen. Man fragt sich, ob eine Tat wie diese ideengesteuert ist. Ist da, fragt man sich, ein Gedanke im Spiel gewesen oder ist aus einer Situation irgendwie Handlung geworden? In der Urteilsbegründung spricht die Vorsitzende von der Befriedigung des Geschlechtstriebes. Ist es das? Oder hat da jemand ein Machtspiel gespielt?

Unfassbar tapfer

So klang es in der Pressemitteilung: „Strafverhandlung gegen einen 23-Jährigen wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung. Laut Staatsanwaltschaft hat der Angeklagte im September 2022 das 16-jährige Opfer in Geldern gegen 1 Uhr Nachts mehrmals vergewaltigt. Erst als sich Zeugen näherten, soll er von der 16-Jährigen abgelassen haben, welche sodann fliehen konnte.“ Keines dieser Worte kommt auch nur in die Nähe dessen, was man jetzt hört.
Das Mädchen sagt aus: unfassbar tapfer wirkt sie trotz der Tränen, die sie vergießt, wenn sie zurücktaucht in die Nähe eines Geschehens, das ihr Leben zerfetzt hat.
„Ich werde nie wieder das Leben führen können, das ich vorher hatte“, sagt sie. Und sagt auch: „Ich versuche, nach außen stark zu sein, aber es gelingt mir nicht immer.“ Dann der Satz der Sätze: „Ich möchte wieder ich selbst sein und hoffe, dass ich mit der Sache abschließen und so leben kann wie vor diesem Tag.“

Wenn es jemand schafft, …

Man möchte losheulen angesichts dieser Worte – angesichts der Tapferkeit, die in ihnen steckt. Da ist ein Mensch bereit, sich von einer Tat nicht zerstören zu lassen und es ist deutlich zu merken wie unmenschlich viel Kraft dazu gebraucht wird. „Wenn jemand es schaffen kann, dann du“, möchte man sagen.
Und doch ist klar: Es gibt kein Zurück in jenes vermeintlich Behütete. Wichtig ist: Niemanden außer dem Täter trifft eine Schuld. Und doch fühlen sich Menschen schuldig. Es sind Menschen, die nichts dafür können, weil sie nichts dagegen konnten: die Eltern, die Schwester. Da sitzt ein Opfer, dem alles Normale abhanden gekommen ist.

Stark sein

Das Echo: „Ich will stark sein, aber ich schaffe das nicht immer“.
Da sitzt ein Mädchen, dessen „erstes Mal“ diese Vergewaltigung gewesen ist; ein Mädchen, das eine Stunde lang Todesangst erleiden musste und irgendwie in dieser Flut aus Elend alles richtig gemacht hat. Sie hat zu kommunizieren versucht – hat sich, als der Täter nach ihrem Alter fragte, ein Jahr jünger gemacht in der trügerischen Hoffnung, eine Zahl könne als Bremse dienen.
Der ihr sagte „Ich stech‘ dich ab“ ist derselbe, der auch sagte, „du musst keine Angst haben“. Nichts passt zusammen. Längst steht kein Stein mehr auf dem anderen. Das Schweigen des Täters auf der Anklagebank ist laut, wenn er nach der Tat befragt wird. Immer wieder sagt er über seine Dolmetscherin „Wenn es so in der Anklage steht, dann stimmt es“.

Zuhören vielleicht

Später wird die Staatsanwältin das Gestehen des Angeklagten nicht als wirkliches Geständnis deuten und das Gericht wird es anders sehen. Später wird die Staatsanwältin acht Jahre fordern und die Nebenklagevertreterin wird sich ihr anschließen. Später wird der Verteidiger des Angeklagten sechs Jahre fordern. Der Angeklagte wird flüstern, dass es ihm leid tut. Immer wieder fragt man sich, wie einer so etwas tun kann. Niemand ist da, der es erklären könnte. Man möchte sich auf die Spur eines Auslösers machen. Man möchte dem Mädchen alles Gute wünschen – ihr sagen, dass noch Gutes wartet im Leben. Man möchte die Eltern trösten. Aber womit denn? Mit Zuhören vielleicht.

Im Tal der Tränen

Man blickt zurück auf einen Tag im Tal der Tränen und – auch das muss erwähnt werden – auf ein souverän verhandelndes Gericht, das auf allen Seiten mit Respekt vorgeht. Und während man aus dem Saal mehr taumelt als geht, taucht man in den Tag zurück und da ist dieser fast undenkbare Gedanke: Was, wenn dieser Täter der eigene Sohne wäre …

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