NIEDERRHEIN. „Ein eigenartiger Junge, der nie aus sich heraus geht.“ Vor seinem Aufenthalt im Adolfinenheim auf der Insel Borkum, das von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre zu den berüchtigtsten „Kindererholungsstätten“ Deutschlands zählte, habe der 14-Jährige „kalte blaue feuchte Hände“ sowie einen „matten Gesichtsausdruck“ gehabt. Im Abschlussbericht des Heims heißt es dann: „gut gebräunt, gut durchblutet, frisches Aussehen“. Dazu beigetragen haben laut Verordnung die Verabreichung von Lebertran, Klappsche Kriechübungen, Wasserabreibungen und eine „Liegekur“. „Das ist eine nette Umschreibung für den aufgezwungenen Mittagsschlaf“, weiß Detlef Lichtrauter vom Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW. Er selbst verbrachte den Sommer 1973 in einem Kindersanatorium in Bonn-Oberkassel. Dort wurde der damals Zwölfjährige zum Essen gezwungen, zudem wurden ihm Psychopharmaka verabreicht.

107 Akten mit Angaben zu 3.600 Personen

„Hätte man damals gewusst, wie brisant dieses Thema einmal wird, dann hätte man die Akten sicher aufbewahrt“, ist Kreisarchivarin Dr. Beate Sturm überzeugt. Im Kreisarchiv in Geldern ist man nun auf 107 Akten gestoßen, in denen sich Unterlagen zu Verschickungen von Kindern aus dem Altkreis Geldern befinden. Es handelt sich um Vorgänge aus dem Zeitraum 1948 bis 1968 zu rund 3.600 Personen, dokumentiert vom Gesundheitsamt und Helfern des Deutschen Roten Kreuzes. Darin enthalten sind unter anderem ärztliche Befunde, medizinische Gutachten, Kurüberwachungsscheine und zum Teil auch Unterlagen und Abrechnungen, die die Finanzierung des Aufenthalts und Transports dokumentieren.

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“Bettnässer” und “nervöse Übererregbarkeit”

„Es sind nur formularhafte Überlieferungen“, räumt Sturm ein. „Die aber sehr aussagekräftig sein können“, betont Lichtrauter. Von „schlaffer Körperhaltung“ oder „nervöser Übererregbarkeit“ ist da die Rede, aber auch von „Bettnässer“ oder diagnostizierter „Blässe“, die häufig zur Verordnung eines Kuraufenthalts ausreichte. Angaben über Medikamente sind, zumindest nach grober Durchsicht, nicht in den Akten zu finden. Heute weiß man: Bis Mitte der 1970er-Jahre wurde in vielen Heimen Medikamentenmissbrauch betrieben. Dazu zählen auch Tests mit noch nicht zugelassenen Arzneimitteln, zum Teil in vielfach überhöhter Dosierung.

Sich helfen lassen und Geschehenes aufarbeiten

„Es ist wichtig, die Geschehnisse aufzuarbeiten und den Betroffenen Hilfe anzubieten“, sagt Lichtrauter. Seit Mai vergangenen Jahres läuft das von der Landesregierung finanzierte Citizen-Science-Projekt Kinderverschickungen NRW (www.kinderverschickungen-nrw.de), der „Runde Tisch“ zum Thema hat seine konstituierende Sitzung am 21. März.

Online-Treff für Betroffene

Betroffene und Interessierte haben am 14. Februar von 17 bis 19 Uhr die Gelegenheit, sich zu informieren und auszutauschen. Dann laden Lichtrauter und Sturm gemeinsam mit Projektleiter Bastian Tebarth zu einem Online-Treff ein. „Es ist ein erster Aufschlag“, sagt Sturm. Der Schwerpunkt liegt auf der regionalen Historie. Die Teilnahme ist kostenlos, den Einwahllink erhält man nach formloser Anmeldung (Stichwort „Sturm“) per Mail an projekt@akv-nrw.de. Ehemalige „Verschickungskinder“ aus dem Altkreis Geldern können sich zudem im Kreisarchiv melden und ihre Unterlagen anfordern. Eine Einsicht ist aus Datenschutzgründen nicht möglich. Die Mitarbeiter stellen die Unterlagen, wenn vorhanden, zusammen und verschicken sie in Kopie. Anfragen an kreisarchiv@kreis-kleve.de.

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