Psychologie to go!: Mit mehr Tatkraft ins neue Jahr

Die Orsoyerin Franca Cerutti betreibt einen der erfolgreichsten Psychologie-Podcasts / Bei den Neujahrsvorsätzen rät sie zu kleinen Steps

ORSOY. Es gibt Themen, über die viele nicht gerne sprechen. Der Einblick in die eigene Gefühlswelt steht dabei wohl auf den vordersten Plätzen. Franca Cerutti aber bereitet diese Themen wöchentlich auf. In ihrem Podcast „Psychologie to go!“ redet die Psychologin und Psychotherapeutin jeden Sonntag über Ängste, Depressionen, Phobien, Süchte oder psychische Störungen. „Die Themen gehen mir nie aus“, sagt die Orsoyerin. Ihr Podcast steht im Bereich „Gesundheit und Fitness“ ganz oben. Innerhalb von vier Wochen verzeichnet Cerutti mehr als 1,5 Millionen Downloads – ein absoluter Top-Wert. Dabei hatte sie diesen Erfolg nie geplant.

Franca Cerutti
Wöchentlich spricht Franca Cerutti in ihrem Podcast „Psychologie to go!“ über psychologische Themen wie Ängste oder Stress im Alltag. Foto: privat

Eigentlich betreibt Cerutti seit zehn Jahren eine eigene Praxis für Psychotherapie in Orsoy. In ihrer alltäglichen Arbeit entstand die Idee zum Podcast. „Eine Patientin sagte zu mir, ob wir nicht die Sitzung einmal aufnehmen könnten, damit sie sich alles noch einmal anhören kann“, sagt Cerutti. Das ging selbstverständlich nicht, aber die Mutter dreier Söhne lies der Gedanke nicht los, etwas Nachhaltiges zu produzieren – zumal sich die Anfragen danach häuften. „Ich habe mir überlegt, dass ich die Gedanken einmal sortiert einspreche und zentrale Sachen, die für viele interessant sein könnten, herausstelle. Dann habe ich in den ersten Podcast-Folgen einfach in mein Smartphone gesprochen und diese zunächst unregelmäßig hochgeladen“, sagt Cerutti. Das war im Januar 2020 – noch vor Beginn der Coronavirus-Pandemie. Schnell stieg die Zahl der Zuhörer. „Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Ich war ja zunächst ganz unbedarft darangegangen“, sagt die 46-Jährige.

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Zu Beginn der Coronavirus-Pandemie im März 2020 erhöhten sich die Abonnentenzahlen aber nochmals stark, sodass Cerutti letztlich seit dem ersten Sonntag im Jahr 2021 kontinuierlich jeden Sonntag eine neue Folge hochlädt. Mittlerweile läuft ihr Podcast im dritten Jahr – beziehungsweise der dritten Staffel. Auch die ersten Folgen haben jedoch nicht an Aktualität verloren. „Das Gute an einem Bibliotheks-Podcast wie meinem ist ja, dass man jederzeit einsteigen oder sich ältere Folgen anhören kann. Themen wie Bulimie verändern sich ja nicht so stark. Das, was ich damals erzählt habe, trifft auch heute noch so zu“, sagt die Psychologin mit finnischen Wurzeln.

Vor einem Jahr stand Franca Cerutti allerdings vor einer schwierigen Entscheidung. „Der Podcast nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, da ich ja – von der Aufnahme bis zum Schnitt – alles selbst mache. Es macht mir jedoch auch großen Spaß. Gleichzeitig war das aber immer schwieriger mit meiner Arbeit in der Praxis vereinbar. Deshalb habe ich Anfang 2022 wirklich überlegt, ob ich den Podcast nur noch 14-tätig anbiete oder auf andere Art reduziere“, berichtet Cerutti. Sowohl die Arbeit in ihrer Praxis in Orsoy als auch der Podcast bereite ihr große Freude, auf Dauer sei aber beides in gleichen Teilen zu viel geworden. „Zu dieser Zeit habe ich aber die Anfrage eines großen Podcast-Vermarkters erhalten, ob ich mit ihnen zusammenarbeiten möchte. Das war für mich ein Signal, weiterzumachen“, sagt Cerutti. Sie reduzierte stattdessen ihre Arbeit in der Praxis und entschied sich, den Podcast so wie er war weiter zu betreiben.

Aufklären und Angst nehmen

Wann genau sie begriffen habe, dass der Podcast ein großer Erfolg werden würde, kann Cerutti gar nicht mehr sagen. „Ich bekam aber irgendwann immer mehr Zuschriften und Fragen von Hörern und auch Kooperationsangebote von Werbefirmen“, erläutert Cerutti. Ihr gehe es jedoch vor allem darum, Stigmata abzubauen und zu enttabuisieren. „Ich möchte die Menschen aufklären und die Angst nehmen. Sie sollen ehrlich mit sich umgehen und sich in Behandlung begeben, wenn sie eine benötigen“, sagt Cerutti. Das gelte genauso für Essstörungen als auch etwa für Depressionen oder Alkoholerkrankungen. Gleichzeitig macht Cerutti aber auch auf seltene Phobien aufmerksam, die selbst viele ihrer Kolleginnen und Kollegen gar nicht kennen.

„Ich habe etwa einmal über eine Emetophobie gesprochen. Dabei haben Menschen Angst vor Erbrechen. Das greift bei ihnen so stark ins Leben ein, dass Frauen zum Beispiel nicht schwanger werden wollen, weil sie Angst haben, sich in der Schwangerschaft erbrechen zu müssen oder Betroffene Feste und Veranstaltungen meiden, bei denen sie auf alkoholisierte Personen treffen könnten, die sich erbrechen könnten“, verrät Cerutti. Das sei so eine Nischen-Phobie, dass vielen Betroffenen nicht einmal klar sei, dass sie an einer Phobie leiden und mit ihrer Angst nicht alleine sind. „Nach dem Podcast bekam ich einige Zuschriften von Betroffenen, die sich bei mir bedankt haben, dass ich darüber gesprochen habe, dass es so eine Phobie gibt und welche Auswirkungen sie haben kann. Zudem bekamen sie das Gefühl, dass sie damit doch nicht die Einzigen auf dieser Welt sind“, so Cerutti.

Die Orsoyerin beschäftigt sich in ihrem Podcast „Psychologie to go!“ aber auch mit alltäglichen Probleme – etwa mit Ängsten und Paniken, (übertriebenen) Perfektionismus, Stress im Alltag, emotionale Erpressung, Hochsensibilität, Demut und Dankbarkeit, das Leben mit Schmerzen oder Krisen und Ausnahmezuständen. Dabei spricht sie meistens alleine und gibt Tipps zur Bewältigung dieser Probleme, manchmal lädt sie sich aber auch Betroffene oder Experten ein. Auch ihr Mann Christian Weiss, ebenfalls Psychiater in Orsoy, ist regelmäßig Gast in ihrem Podcast. Inspirationen für Themen bekommt sie nicht nur von ihren Zuhörern oder Patienten aus ihrer Praxis, sondern auch aus dem eigenen Umfeld und dem Alltag.

Was will ich wirklich?

Einer ihrer Söhne, der gerade die Schule abgeschlossen hat und auf der Suche nach seiner Berufung im Leben war, brachte sie zum Beispiel auf die Fragestellung: „Was will ich wirklich?“ In dieser Podcast-Folge berichtet sie, dass ihr Sohn – genauso wie sie – exakt wisse, was er nicht machen wolle. „Und das ist auch gut so und überhaupt nicht schlimm“, sagt Cerutti. Es sei vielmehr sogar ein guter Anfang erstmal zu wissen, was man nicht wolle. In 45 Minuten erklärt die Psychologin und Psychotherapeutin auch, wie jeder durch vier Fragen Klarheit erhalten könne, wozu er im Leben bestimmt sei. Ihrem Sohn habe dies mittlerweile geholfen. „Er möchte nun Modedesign studieren und bereitet sich gerade mit Zeichen- und Mappenkurse auf sein Studium vor. Ich bin gespannt, wo ihn die Zukunft hinführen wird“, sagt Cerutti.

Ein neues Jahr bedeutet in gewisser Weise immer auch ein Neuanfang. Bei den guten Vorsätzen sollte man aber nicht zu weit denken, sagt die Expertin: „Viele stecken sich zu hohe Ziele. Dafür müssten sie quasi eine 180 Grad-Wende machen und sich von einem Tag auf den anderen zu einem anderen Menschen entwickeln. Das ist unrealistisch. Kleine Steps sind wesentlich wirkungsvoller.“ Sich jeden Tag um einen Prozentpunkt weiterzuentwickeln, bringe einen nach einem halben Jahr auch zu einem gewissen Ziel – das aber meist nachhaltiger und realistischer gesetzt sei. Franca Cerutti vergleicht diese These mit einem Beispiel aus dem Buch „Atomic habits“ von James Clear, bei dem ein Flugzeug, das in Los Angeles in die Luft steigt, seine Richtung um 3,5 Grad verändert. „Das macht nur einen Meter aus. Die Passagiere merken davon gar nichts. Aber statt in New York wird dieses Flugzeug in Washington landen. Das ist schon ein großer Unterschied, obwohl es doch nur einer kleinen Veränderung bedarf.“

Schlechte News ausblenden

Ebenso rät die Orsoyerin dazu, schlechte Nachrichten auch mal bewusst auszublenden und sich die guten Nachrichten anzusehen. Genauso solle aber auch die Selbstreflektion immer mal wieder in den Fokus rücken. „Es hilft enorm, die eigenen Gedanken auch mal zu extrahieren. Bei Ängsten muss man zum Beispiel immer unterschieden zwischen: Was ist (konstruktives) Nachdenken, und was ist (destruktives, sorgenvolles) Grübeln, das sich nur im Kreis dreht und Ängste entfacht? Wenn man sich in Ängste hineinsteigert, drehen sich die Gedanken ganz schnell im Kreis, ohne dass sie zu irgendeinem Erfolg führen. Das muss man aber erkennen und sich dann die Frage stellen: Was kann ich ändern und was tut mir gut?“, erläutert Cerutti.

Betroffene müssten dann versuchen, sich wieder auf das Machbare zu fokussieren – also auf alles, wo man tätig werden und aktiv werden kann, um die eigenen Selbstwirksamkeitsüberzeugung zu steigern. „Tatkraft anstatt Hilflosigkeit und Ohnmacht. Denn Letztere sind der Nährboden für depressive Stimmungslagen“, sagt Cerutti. Dabei könne etwa Meditation helfen. „Wir konzentrieren uns eigentlich alle sehr bewusst darauf, unseren Körper gesund zu halten. Wir putzen uns regelmäßig die Zähne, versuchen auf die Ernährung und ausreichend Bewegung zu achten und gehen zum Friseur. Aber wir konzentrieren uns oftmals eher darauf, was auf dem Kopf passiert, als auf das, was im Kopf passiert. Dabei ist die psychische Gesundheit mindestens genauso wichtig wie die physische Gesundheit“, sagt Cerutti.

Die Psychologin und Psychotherapeutin muss sich allerdings selbst eingestehen, dass auch bei ihr nicht alles perfekt ist. „Der Sport läuft bei mir auch nicht so rund. Ich kann mir zwar die Laufschuhe ans Bett stellen, aber mehr als für einen ausgiebigen Spaziergang reicht es dann meistens doch nicht. Ich jogge einfach nicht gerne“, sagt Cerutti schmunzelnd. Ein Ritual von ihr sei jedoch, ihre Gedanken regelmäßig aufzuschreiben, um sich selbst immer wieder zu reflektieren und die eigenen Lebens- und Verhaltensweisen zu verbessern. Der Start in ein neues Jahr könne ein guter Anfang sein, damit zu starten.

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