NIEDERRHEIN. Über „Scham und Verwirrung“ und die Herausforderungen, die die Welt an Christen stellt, hat Münsters Bischof Dr. Felix Genn im Dankgottesdienst am Silvester-Vormittag in der Stadt- und Marktkirche St. Lamberti in Münster gesprochen.

Traditionsgemäß ging der Bischof in seiner letzten Predigt des Jahres 2022 auf Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft ein. Er nannte unter anderem den Ukraine-Krieg und die Tötung von Malte C. beim Christopher Street Day in Münster, die vorübergehende Entfernung des historischen Kreuzes aus dem Friedenssaal im Münsteraner Rathaus anlässlich des G-7-Außenminister/innen-Gipfels und den Synodalen Weg der Kirche in Deutschland. Die Worte „Scham und Verwirrung“ entlieh Genn beim heiligen Ignatius von Loyola, der beides als Gabe von Gott erbittet. Demnach könne, wer über das Böse und die Sünde nachdenkt, „nur darum beten, dass ihn Scham überkommt und er Verwirrung erlebt angesichts der Macht dessen, was Sünde, das Böse und alles, was damit zusammenhängt, auslösen kann.“

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In diesem Sinne löse auch der Ukraine-Krieg Scham und Verwirrung aus. „Es ist böse, was dort geschieht, was dort Menschen erleiden müssen und dass Verkünder der gewaltlosen Liebe einen solchen Terror unterstützen“, unterstrich der Bischof. Er führte weiter aus: „Beschämend ist es, weil wir uns in Europa sicher glaubten, weil der gute Wille zwar vorhanden ist, wir es aber bis zur Stunde nicht schaffen, dem Kriegstreiben ein Ende zu setzen. Und Verwirrung schafft es ohnehin, weil uns die Folgen dieses Krieges nicht nur durch die konkreten Gesichter fliehender Menschen gegenübertreten, sondern auch bis in die Heizung unserer Häuser zu spüren sind, so dass wir den Gürtel enger schnallen müssen, bescheidener werden, weil wir uns abverlangen, einem Aggressor seine Mittel und Möglichkeiten zu nehmen.“

Die Verwirrung setze sich fort bis hin zu den Gedanken von Reichsbürgern und wachse angesichts der Korruption führender europäischer Politikerinnen und Politiker. „Dass dann Menschen an unseren staatlichen, demokratischen Strukturen Zweifel anbringen, sich einfacheren Ideen zuwenden, ist verständlich, wenn es auch nicht richtig ist“, betonte Genn.

In seine Gebete schloss er Malte C. sowie die um ihn Trauernden und die Hassenden ein. Mit Blick auf die Auseinandersetzung um das Kreuz im Friedenssaal sagte der Bischof: „Das Kreuz ist der Mittelpunkt unseres Glaubens, aber auch einfacher menschlicher Erfahrung. Leid geschieht, ist mitten in unserem Leben.“ So sei das Kreuz Mahnung und Warnung, Aufmunterung und Ermutigung. Statt über Parteien und Beamte zu schimpfen, würden Christen an ihre Pflicht erinnert, sich „dafür einzusetzen, dieses Symbol, das nicht nur ein Zeichen unseres Glaubens, sondern auch unserer Kultur ist, nicht beiseite zu schieben.“ Christen und Christinnen seien herausgefordert, alles zu tun, um Demokratie lebendig zu erhalten. Denn sie sei mehr als eine Staatsform, weil sie auch eine Lebensauffassung und Haltung darstelle.

Scham und Verwirrung prägten ebenso die kirchliche Situation, führte Genn weiter aus und erinnerte an die Vorstellung der Missbrauchsstudie für das Bistum Münster. Persönlich sehe er sich wegen seines Abstimmungsverhaltens beim Synodalen Weg dem Vorwurf ausgesetzt, nicht mehr katholisch zu sein. „Ich habe gar kein Recht, die Lehre der Kirche zu ändern“, sagte Genn, „aber ich sehe es als Pflicht an, ins Gespräch mit dem Lehramt und der Weltkirche zu bringen, was es bedeutet, wenn die Lehre in einzelnen – zum Teil lebensbestimmenden – Fragen nicht angenommen wird und dazu auch Argumente vorgetragen werden, deren Gewicht ich nicht letztgültig entscheiden kann und will.“

Die Spannung nicht nur in der Kirche zeige: Es komme auf Kooperationen statt auf Konfrontation an. Um sich zu orientieren, sei es gerade für Christen sinnvoll, nicht nur um sich selbst zu kreisen, sondern ihren Grundauftrag zu bedenken. Jesus sei „der Orientierungspunkt und der Haltepunkt, der Ausgangspunkt für alle Lösungen dieser Konflikte.“

Weiter verwies der Bischof auf die Installation „Himmelsleiter“, die derzeit an und in der Lambertikirche zu sehen ist. Jesus sei „diese Leiter, die Verbindung zwischen Gott und uns. So steht der Himmel offen.“ Von dieser Perspektive aus könne man „über Scham und Verwirrung hinausgehen, ohne den Anlass unter den Teppich zu kehren.“ Wer sich auf Jesus besinnt, „wird der Welt in einer kriegerischen Situation eine Botschaft vermitteln, die zeigt, worauf wir uns im Leben und Sterben verlassen können.“ Christen und Gläubige sollten Probleme in Chancen verwandeln, indem sie nicht „vorzeitige Lösungen anstreben, mit denen die einen die anderen ausschließen, sondern im Dialog bleiben“. Das gelte auch für den Synodalen Weg. Es gehe nicht um Sieger und Besiegte.

Zur Himmelsleiter gehöre, dass sie bis in den „Abgrund des Bösen“ reicht. „Sie nimmt Scham und Verwirrung auf und trägt sie zu dem, der sie überwinden kann. Er bietet die beste Perspektive, im Leben und Sterben bestehen zu können, im Wandel der Zeiten einen inneren Halt zu finden. Er lässt uns die Hoffnung nicht aufgeben bei allem Rückblick auf ein sehr geschütteltes Jahr, damit wir die Zukunft gestalten können aus dem Geist gewaltloser, aber darin erlösender Liebe“, sagte der Bischof. Für das kommende Jahr machte er mit dem Verweis auf Jesus Christus Mut: „Wir haben immer jemanden, der von der Leiter des Himmels zu uns hinabsteigt und uns stärkt, und wir haben die Möglichkeit, unser irdisches Leben, Arbeiten, Kämpfen und Ringen auf dieser Leiter hinaufzutragen zu ihm.“

Großes Bild: Bischof Dr. Felix Genn blickte in seiner Silvesterpredigt auf das vergangene Jahr in Kirche und Gesellschaft zurück. Foto: Archiv/Bischöfliche Pressestelle/Ann-Christin Ladermann

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