„Die Defensive wird der Schlüssel zum Erfolg werden“

Fußball-Trainer Sandro Scuderi ordnet im NN-Interview die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar ein

NIEDERRHEIN. Nächste Woche Sonntag beginnt sie: Die erste Fußball-Weltmeisterschaft im Winter. Der Grund dafür sind die im Sommer zu hohen Temperaturen am Austragungsort in Katar (Arabische Emirate). Die Vergabe sorgte seit 2012 bereits für viel Diskussionsstoff. Nun soll aber ab dem 20. November der Sport im Vordergrund stehen. Sandro Scuderi (43) ist Fußball-Liebhaber durch und durch. Er trainierte unter anderem die erste Mannschaft des SV Straelen und betreut aktuell die Damen des VfR Warbeyen in der Regionalliga. Im Interview mit NN-Redakteurin Sabrina Peters spricht er unter anderem über die Herausforderungen dieser Winter-WM, die Titel-Favoriten und die Chancen der deutschen Nationalmannschaft. Er sagt aber auch, dass Deutschland das Turnier eigentlich hätte boykottieren sollen.

Über keine Weltmeisterschaft ist im Vorfeld so viel gesprochen und diskutiert worden, wie über die WM in Katar. Wie stehen Sie dazu?
Sandro Scuderi: Ich sehe es echt mit gemischten Gefühlen. Zum einen liebt man den Sport, um sich eigentlich auf eine WM freuen zu müssen; aber zum anderen sind zu viele Dinge im Vorfeld dort passiert, dass der Sport einfach in den Hintergrund geraten sollte. Das Problem ist, dass bei der Vergabe vor zwölf Jahren einfach alles falsch gelaufen ist und man es bis heute nicht hinbekommen hat, diese Vergabe zu annullieren.

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Die ganzen Diskussionen bekommen natürlich auch Trainer und Spieler mit. Wie geht man als Trainer und Spieler damit um? Beschäftigt einen das?
Scuderi: Natürlich ist das seit Jahren Gesprächsthema. Auf höchster Ebene – der FIFA – sind Fehler passiert, die wir im unteren Amateur-Bereich nur akzeptieren können. Da sind ganz andere Verbände, Mannschaften oder Länder gefragt; aber leider hat kein Land hier den Mut gehabt, sich ganz klar dagegenzustellen. Deutschland hätte mit gutem Beispiel vorangehen können und einfach die WM boykottieren sollen. Es wären mit großer Wahrscheinlichkeit andere Länder mit aufgesprungen.

Ab dem 20. November soll natürlich trotzdem das Sportliche im Fokus stehen. Was für ein Turnier erwarten Sie?
Scuderi: Das wird echt eine Herausforderung für die Länder werden. Es gibt nicht die übliche Vorbereitungszeit für die Nationalmannschaften, das heißt man hat die große Aufgabe innerhalb kurzer Zeit sich als Team zu finden und sich vor Ort zu akklimatisieren. Ich persönlich bin gespannt, wie schnell sich Teams dort zurechtfinden.

Eine WM im Winter ist ungewöhnlich. Die obligatorische mehrwöchige Vorbereitung fällt weg, dafür darf jeder Nationaltrainer 26 statt 23 Spieler nominieren. Ist diese WM im Winter für Spieler mitten in der Saison eher eine zusätzliche Belastung oder hilft die Routine aus den Vereinsspielen?
Scuderi: Durch die kurze Anlaufzeit, gehe ich davon aus, dass sich viele Länder auf Mannschafts-Blöcke verständigen werden. Dadurch könnte man sich deutliche Vorteile verschaffen und Mannschaftsteile sind eingespielter.

Das DFB-Team trifft sich erst morgen in Frankfurt/Main und reist am Montag für ein Kurztrainingslager in den Oman. Wie kann Hansi Flick seine Spieler in so kurzer Zeit auf die WM-Spiele vorbereiten und ein Team formen?
Scuderi: Den Großteil der Mannschaft hat Flick seit Monaten zu Spielen schon dabei, deshalb geht es gar nicht mehr um eine große Vorbereitung. Ich sehe hier mehr Arbeit im Detail: Feinschliff und Varianten bezüglich der Taktik sowie Standards-Geschichten und so weiter. Das Teambuilding wird von selbst in den Tagen vor Ort in den Vordergrund kommen.

Hat der Zeitpunkt der WM für manche – vielleicht die kleineren – Nationen Vorteile? Erwarten uns in diesem Jahr besonders viele Überraschungen?
Scuderi: Das sehe ich persönlich nicht so. Wir reden hier von absoluter Qualität innerhalb der Teams bei den Favoriten; im Normalfall wären die meisten Spieler im Liga-Alltag unter anderem mit der Champions-League. Daher wird es hier keinen großen Unterschied geben. Trotzdem denke ich an „kleine“ Länder, die mit mannschaftlicher Geschlossenheit und taktischer Disziplin die „großen“ Länder ärgern können.

Die deutsche Nationalmannschaft muss mit Timo Werner (RB Leipzig), der im Champions-League-Spiel gegen Schachtjor Donezk Anfang November einen Riss des Syndesmosebandes im linken Sprunggelenk erlitt, einen wichtigen Stürmer ersetzen. Wie schwer wiegt dieser Verlust?
Scuderi: Für Timo Werner ist das echt schade, da er sich in den letzten Wochen in Leipzig toll entwickelt hat. Er wird definitiv in manchen Situationen fehlen. Zum Glück ist Deutschland in der Breite aber gut aufgestellt und kann auch diesen Verlust kompensieren.

Was trauen Sie der deutschen Nationalmannschaft unter Trainer Hansi Flick in diesem Jahr zu? Welche Stärken oder Schwächen hat sie?
Scuderi: Deutschland ist und bleibt eine Turniermannschaft. Sie gehört in meinen Augen zum erweiterten Kreis der Favoriten. Aber der Start in das Turnier wird die größte Herausforderung darstellen. Man wird direkt gegen Japan gefordert sein und muss den Sieg einfahren. In der Offensive ist Deutschland sehr gut aufgestellt. Die Defensive wird der Schlüssel zum Erfolg werden, aber da sehe ich noch Probleme.

Inwiefern?
Scuderi: Ich sehe hier keinen Spieler auf Top-Niveau. Wir haben viele Spieler auf gleichem Level, aber Du brauchst Spieler, die auch Spiele entscheiden können. Hier spreche ich von Gegnern, die herausragende Offensiv-Spieler in ihren Reihen haben. Hier muss die Defensive zeigen, dass sie im Verbund, zu dem die komplette Arbeit gegen den Ball gehört, über sich hinauswachsen kann. Wenn das geschafft wird, dann kann das ein langes Turnier für Deutschland werden.

In der Vorrunde trifft das DFB-Team auf Japan (23. November), Spanien (27. November) und Costa Rica (3. Dezember). Wie ordnen Sie die Gruppe ein?
Scuderi: Spanien ist natürlich der stärkste Gegner. Costa Rica sollte man schlagen können. Japan sehe ich hier als Wundertüte – da bin ich echt gespannt, vor allem weil es das erste Spiel sein wird, wie Deutschland gegen Japan startet.

Welche Nationen gehören für Sie in diesem Jahr zu den Favoriten?
Scuderi: Ich sehe in diesem Jahr Argentinien und Brasilien weit vorne. Dann folgen aber auch schon Länder wie Deutschland, Frankreich, England, Belgien und Spanien.

Eine grandiose WM-Stimmung am Glühweinstand können sich viele noch immer nicht so richtig vorstellen. Wie kann dennoch die richtige WM-Stimmung aufkommen und wie werden Sie die WM verfolgen?
Scuderi: Das ist echt eine gute Frage. So richtig kann ich mir das noch nicht vorstellen, wie die WM zwischen dem Alltag und dem „vorweihnachtlichen“ Stress reinpasst. Gerade zum Ende des Jahres sind noch so viele Dinge zu erledigen, dass es definitiv keinen Vergleich zur normalen Sommer-WM gibt. Hinzu kommt halt das Gefühl, das diese WM im Vorfeld so viele Opfer gebracht hat und mir deshalb schon den grundsätzlichen Spaß zum Teil genommen hat.

Sie stehen mit der Damen-Mannschaft des VfR Warbeyen auf dem zweiten Tabellenplatz der Regionalliga West. Was macht Euren Erfolg aus und welche Ziele habt Ihr noch?
Scuderi: Unsere Entwicklung geht aktuell weiterhin steil nach oben. Auch wenn die jüngsten Ergebnisse nicht so positiv waren, spielen wir aktuell eine tolle Hinrunde. Nach dem elften Spieltag „nur“ einen zwei-Punkte-Rückstand auf dem Tabellenersten zu haben, kann sich sehen lassen. Der VfR Warbeyen macht einfach Spaß. Wir haben untereinander ein tolles und familiäres Verhältnis. Der Verein wächst weiter und aktuell schicken wir folgende Teams Woche für Woche ins Rennen: U11, U13, U15, U17, U23 und die Seniors geben täglich Gas, um den Frauen-Fußball im Gebiet weiter aufzuwerten. Vor allem nach der sensationellen EM im Sommer der deutschen Frauen, wollen wir auf unsere Ebene unseren Teil dazu beisteuern. Ich hoffe, dass wir weiterhin die Umgebung von unserem Fußball begeistern können bzw. werden. Perspektivisch wollen wir uns in der Spitzengruppe in der Regionalliga behaupten und wollen uns in dieser Liga ganz klar etablieren.

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