Wagner gegen Wagner

Frau Wagner hat Anzeige erstattet – gegen Herrn Wagner, ihren Adoptivvater.
Herr Wagner heißt – im doppelten Sinn – nicht Wagner: Erstens hat er – das war schon in den 70-er Jahren in Kasachstan – den Namen seiner Frau, einer Russlanddeutschen, angenommen und zweitens ist (Übereinstimmungen wären rein zufällig) Wagners Name nicht Wagner. Man ändert Namen – das dient dem Schutz aller Beteiligten –und landet bei anderen…

Nebenklägerin

Wagners Tochter – die mittlerweile nicht mehr Wagner heißt – hat also Anzeige erstattet. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte in dem Zeitraum zwischen September 1996 bis Ende Mai 1997 seine Adoptivtochter im Elternschlafzimmer […] vergewaltigt haben. Die Geschädigte ist (als Nebenklägerin) anwaltlich vertreten, zudem wird ein Sachverständiger an den Hauptverhandlungen teilnehmen.

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Kasachstand

Ihr Adoptivvater, sagt das Opfer, hat sie vergewaltigt. Ein Sprung zurück in der Zeit: Wagner und dessen Frau lebten in Kasachstan (damals gehörte das Land noch zur UdSSR), hatten zwei leibliche Töchter und adoptieren fünf weitere Kinder – eines davon: die Geschädigte. Alle Kinder kamen aus Kinderheimen – vier aus demselben, eines aus einem anderen. Der leibliche Vater von Wagners Adoptivtochter – nennen wir sie ab jetzt Irena – tötete Irenas Mutter und deren Mutter. Irena landete im Kinderheim. Kurz darauf: die Adoption durch das Ehepaar Wagner. Ein Höllentor tat sich auf. „Wir Adoptivkinder wurden wieder und wieder geschlagen“, erinnert sich Irena. Die Instrumente: Teppichklopfer, Kabel, Ledergürtel. „Teppichklopfer?“, fragt der Vorsitzende. Herr Wagner übrigens streitet die Vorwürfe ab. Niemals hat er seine Adoptivtochter vergewaltigt. Auch geschlagen hat er sie und die anderen Kinder nicht. Wenn die Kinder gegen Regeln verstießen, wurden sie ermahnt – mussten sich „in die Ecke stellen“ und darüber nachdenken, was sie falsch gemacht haben. Auch Hausarreste wurden verhängt. Keine Schläge.

Geschlagen – ja, vergewaltigt: Nein.

Nach der ersten Verhandlungspause räumt Wagner über seine Anwältin ein: Es hat doch Schläge gegeben. Auch mit dem Gürtel.
Die Wagners siedeln nach Deutschland um und wohnen zunächst in Rheinhausen, später in Neukirchen-Vluyn und schließlich in Kalkar. Die Vergewaltigungen von Irena sollen in Rheinhausen und Neukirchen-Vluyn stattgefunden haben. Wagner und seine Frau leben mittlerweile in Ungarn. „Das hat etwas mit der Gesundheit meiner Frau zu tun: Sie hat Rheuma.“ Die Befragung von Herrn Wagner: eine zähflüssige Angelegenheit – trotz der Anwesenheit einer Übersetzerin. Man fasst zusammen: Wagner hat Irena nicht vergewaltigt. Sagt er. Und: Ja, er hat die Kinder geschlagen.

Irena

Erste und einzige Zeugin des ersten Verhandlungstages: Irena. Über drei Stunden sitzt sie auf dem Zeugenstuhl. Noch bevor sie aussagt, hat man eine Whatsappsprachnachricht gehört, die Irena an ihre Adoptiveltern geschickt hat. Es geht um die Vergewaltigungen. Man könne sich, sagt sie, gütlich einigen. Die Eltern sollen Irena die Eigentumswohnung in Kalkar überschreiben und sich verpissen, oder es wird härter zugehen. „Das Fernsehen und Zeitungen interessieren sich für solche Geschichten und ich werde all euren Nachbarn erzählen, wer ihr wirklich seid. Ich habe mit einer Psychologin gesprochen – da habe ich einen Freibrief.“ Es stellt sich heraus: Das Gespräch mit der Psychologin zum Zeitpunkt der Sprachnachricht hat es nicht gegeben. „Ich wollte denen drohen.“
Wenn nicht die Wohnung, dann soll es ein Schmerzensgeld zwischen 50.000 und 100.000 Euro sein. Die Sprachnachricht: zu 90 Prozent in Russisch. Nur zwischendurch die Leuchtturmworte: Anzeige, Fernsehen, Zeitungen, Schmerzensgeld.

Eine Woche Bedenkzeit

Eine Woche gibt Irena den Wagners, „sich die Sache zu überlegen“. Danach: Anwalt, Anzeige, Fernsehen, Zeitung. „RTL und Pro7“ werden als televisionäre Adressen genannt. Drei Mal dreht Irena die Runde. Drei Mal wiederholt sie Vorschläge und Drohungen – spricht über ihr zerstörtes Leben. Einigung im Guten oder die harte Tour.
Irenas Leben: Eine Achterbahn. Mittlerweile ist sie zweifache Mutter. Es hat verschiedene Partner gegeben. Immer wieder endeten Beziehungen mit Gewalt: Irena wurde geschlagen.
Immer wieder fragt der Vorsitzende Details der Taten ab. Die Wirklichkeit – ein Schwimmbecken. Irena – ein Aal.

Ein Gefallen

Ja – sie hat im Gefängnis gesessen. Sie hat einem ihrer Ex-Partner einen Gefallen tun wollen. Der hatte noch Geld von einem Typ zu bekommen. Irena lockt den Mann in eine Wohnung und gibt vor, der habe sie vergewaltigen wollen. Irenas Ex und seine Freunde richten den Mann übel her. Irena bekommt drei Jahre – Beihilfe zum schweren Raub –, sitzt zwei davon ab, wird entlassen und es beginnt: der Streit mit den Adoptiveltern.
Als Herr Wagner Irena das erste Mal vergewaltigt, ist sie 13. Ihre Brüder, sagte Irena, haben das Geschehen durchs Schlüsselloch der elterlichen Schlafzimmertür beobachtet. Sie sagt auch, Wagner habe die Tür vorher abgeschlossen. Wie dann die Brüder bei von innen steckendem Schlüssel ihre Beobachtungen machen konnten – dafür hat Irena keine Erklärung. Es tauchen Ungereimtheiten auf. Was soll man sagen? Menschen sind angespannt, wenn sie vor Gericht Aussagen machen sollen. Sie sind noch angespannter, wenn dabei der mutmaßliche Peiniger keine zwei Meter von ihnen entfernt sitzt.

Unterschiede

Es tauchen Deckungsungleichheiten auf zwischen dem Text der Anzeige, die Irenas Anwalt geschrieben hat und der Aussage, die sie jetzt macht. Wieder und wieder werden Tatdetails abgefragt – wieder und wieder windet sich Irena. Herr Wagner sitzt da und hört zu. Tonlos. Ja – er ist der, der seine Kinder geschlagen hat, aber ist er auch der, der seine Adoptivtochter unzählige Male missbraucht hat? Ist er der, der einem schlafenden Kind seinen Penis in den Mund geschoben hat – in einem Zimmer, in dem zwei andere Geschwister schliefen? Täglich soll das passiert sein, heißt es in der ersten Fragerunde. Später sagt Irena, es sei „vielleicht jeden zweiten Tag“ passiert. Die Fragen an Irena drehen sich um Details: Wer hat sich bei den Vergewaltigungen wie bewegt? Welche Details kann sie erinnern?
Man studiert die Minen der Beteiligten. Man denkt: Okay – die Anklage gegen Herrn Wagner ist zugelassen worden. Noch ist er ja „nur“ ein mutmaßlicher Vergewaltiger. Aber: Eine Anklage wird nicht zugelassen, wenn alle glauben, es sei nichts dran.
Trotzdem beginnt man den Eindruck zu entwickeln, der kontrollierten Sprengung eines Hauses beizuwohnen, das langsam in sich zusammensackt und am Ende eine Staubwolke hinterlässt. Ein Gefühl nur – mehr nicht.

Eine Gutachterin

Eine der Prozessbeteiligten ist eine Gutachterin. Gutachten werden häufig beantragt. Meist geht es dann um die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Angeklagten. Die Gutachterin in diesem Fall hat sich mit Irena befasst und es geht um ein aussagepsychologisches Gutachten.
Man googelt: Bei einem aussagepsychologischen Gutachten prüft ein Gutachter, der in der Regel ein Psychologe beziehungsweise eine Psychologin ist, die Aussage der belastenden Person und untersucht sie anhand gesicherter wissenschaftlicher Kriterien darauf, ob sie erlebnisbasiert ist. An anderer Stelle heißt es: Tritt ein Zeuge vor Gericht auf und äußert sich zu einem bestimmten Sachverhalt, so ist es laut dem Bundesgerichtshof grundsätzlich die „ureigenste Aufgabe des Gerichts“, dessen Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Hier kann jedoch auch das Gericht an seine Grenzen stoßen, wenn es etwa nicht selbst über die erforderliche Sachkunde verfügt. Dann kann sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht selbst ein sog. aussagepsychologisches Gutachten einholen. […] Die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens ist insbesondere dann erforderlich, wenn der Zeuge Besonderheiten aufweist. Diese können etwa darin begründet sein, dass der Zeuge an einer psychischen Krankheit leidet, noch besonders jung ist, oder bereits sich widersprechende Aussagen getätigt hat. Aber auch die Situation als solche kann die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens notwendig machen, etwa, wenn die Tat schon längere Zeit zurück liegt. Dann sollte der Zeuge gerade auf seine Erinnerungsfähigkeit hin geprüft werden. (www.heidelberg-strafrecht.de)

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