“Ich fand das widerlich.”

KLEVE/KERKEN. Da tönt sie wieder: die Melodie des Untergangs – das alte Lied: ein neues Leid. 40 Minuten dauert allein das Verlesen der Anklage. 115 Fälle. Ein Trauergesang, der davon handelt, dass einer Kinder missbraucht.

Blindtaube Lust

Der, von dem die Rede ist, sitzt da und hört zu. Man denkt, dass sich jetzt der Boden auftun und ihn verschlucken müsste. Das hier, denkt man, ist der Bodensatz. Es ist das, was übrig bleibt, wenn die blindtaube Lust abgereist ist. Was man hört, verändert, was und wen man sieht. Der da auf der Anklagebank sitzt wird im eigenen Kopf zum Feind. Nach den ersten zehn Minuten der Anklage beginnt das Entsetzen nachzulassen. Man spürt an der eigenen Seele: Das Fassungsvermögen ist erschöpft. Es tritt Gewöhnung ein – eine Art Selbstschutzhypnose. Man fixiert einen Punkt an der Wand, um nicht auf einen Blick zu treffen, der auch nur aus Entsetzen besteht. Irgendwie scheint es allen so zu gehen. Alle starren irgendwie ziellos.

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Paralysiert

Man denkt an die Opfer. Man selbst ist nur vom Anhören paralysiert. Die, von denen 115 Mal die Rede ist, haben am eigenen Körper – und viel schlimmer noch: an der eigenen Seele – erlebt, was hier über Bande geschildert wird. Vielleicht ist es wichtig zu sagen, dass man schon Brutaleres gehört hat. Nein – bitte – das hier ist keine Inschutznahme. Es ist der Versuch einer Einschätzung und zeigt die Paradoxie – zeigt, dass es um Maßnehmen geht.
Wieder einmal wird man Zeuge seelischer Verwüstungen – man reist in eine Trümmerlandschaft: geborstene Seelen hier – ein Täter dort: einer, der alles zugibt. Einer, der beteuert, dass ihm Leid tue, was geschehen ist. Einer, der weiß, dass, was ihm Leid tut, daraus besteht, dass er Leid getan, zugefügt hat – ein Leid, dessen Urheberschaft bei ihm liegt.

Erblindet

Nach 40 Minuten Anklageverlesung ist die eigene Seele erblindet – taub geworden. Man beginnt sich schuldig zu fühlen für das eigene Erstarren.
Dann spricht der Angeklagte. Er liest vor, was zu sprechen ist. Legastheniker sei er, liest er und man merkt, dass die Worte, die A. liest, nicht seine eigenen sind. Aber was er liest, fasst ein Leben – sein Leben in Worte.

Pfandflaschen

Später wird er zu den 115 Taten befragt und antwortet, als ginge es nicht um Lebenszerstörungen sondern den Diebstahl von Pfandflaschen. Tut man A. Unrecht, wenn man das empfindet? A. möchte den Opfern eine Aussage ersparen, sagte er und gibt deswegen alles zu. Wenn sich seine Erinnerung von dem unterscheidet, was die Opfer angegeben haben, sagt er: „Wenn die das so sagen, wird es richtig sein.“ Ist das Großmut oder Selbstschutz? Wer will das beantworten? Vielleicht der Gutachter.
Da begeht einer 115 Taten und man fragt sich, was seine Familie davon wusste: Er hat eine Frau und zwei Söhne. Er ist, sagt A., als Kind selbst missbraucht worden und es ist der einzige Punkt am ersten Verhandlungstag, an dem auch A. die Stimme ins Nichts rutscht. Bedauert sich da einer selbst? Ist, was man erlebt, eine Inszenierung?

Verlorene Unschuld

Die Opfer: Kennengelernt beim Camping. Kinder meist, deren Eltern froh waren, dass da einer ist, der sich kümmert. Zuwendungen, Umherreisen, Annehmlichkeiten, kleine Geschenke – Kinder aber auch, die A. aus dem Freundeskreis der eigenen Kinder rekrutierte. Ein Schneeballsystem: Die Kinder bringen wieder andere Kinder ins Spiel. Bei A. dürfen sie rauchen, fahren Wasserski und zahlen dann mit dem eigenen Körper. Zwischendurch: immer wieder Technisches. Unsägliches wird Teil des Protokolls: Manipulation (an Geschlechtsteilen – und irgendwie auch an den Opferseelen), Oralverkehr, Analverkehr, Samenerguss. Viele der 115 Taten fanden in einem Wohnmobil statt. Campingplätze, denkt man, haben seit Lügde ihre Unschuld verloren.

Jäger

Das umfassende Geständnis des Angeklagten soll den Opfern ihre Aussage ersparen. Was klingt, als ginge es um das Wohl zerkratzter Seelen, kann genausogut der Versuch des Abwendens einer hohen Strafe sein. Es habe, sagt der Angeklagte, in der Haft irgendwann „Klick gemacht“. Er werde, sagt er weiter, das Gefängnis als alter Mann verlassen und wolle dann mit der Familie – seiner Familie zusammen sein. Zweimal war er vorbestraft. Und während er – nach der zweiten Strafe unter Bewährung stand –, während er in (verordneter Therapie) war, ging er parallel „als Jäger“ auf Beutezüge.

Suchtdruck

Wie ist all das einzuschätzen? Was ist von A.s „Diensteifrigkeit“ bei der Aussage zu halten? Ist da ein Therapie-Geschulter auf der Suche nach dem kleinstmöglichen Strafübel? A. war Alkoholiker. Irgendwann während der Therapie habe es Klick gemacht. (Da ist es also wieder: das Klicken.) Jetzt sei er trocken. Nach der Mittagspause kommt A. lädiert in der Verhandlungssaal zurück: Kratzwunden an den Unterarmen und am Kopf werden mit „Suchtdruck“ erklärt.

Große Geste

Im Gerichtssaal herrscht eine sachliche Stimmung. Die Anwälte der Nebenklage beantragen, dass die (mittlerweile) jugendlichen und erwachsenen Opfer nicht aussagen müssen und das Gericht gibt dem Antrag statt. So bleibt den Opfern erspart, ein weiteres Mal zurück in ihre „Rolle“ tauchen zu müssen. Eine große Geste der Menschlichkeit, denkt man.

Soll der bestraft werden? Ja.

Stattdessen werden polizeiliche Anhörungen verlesen. Sie deuten Verwüstungen an. A. hat oft genug das ‚Nein‘ seiner Opfer übersprungen. Sätze brennen sich ein: „Er hat mich unten angefasst. Ich fand das widerlich.“ „Das tat weh und ich habe geweint.“ „Ich habe die Schmerzen vergessen. Ich habe das aus meinem Kopf geschmissen.“ Frage eines Beamten: „Soll der bestraft werden?“ Opfer: „Ja.“ „Wie lange soll er ins Gefängnis?“ „Lange. 15 bis 14 Jahre.“ „Er hat nachher immer gefragt: ‚Wie war das?‘ Wir haben immer gesagt, dass es schlecht war.“ „Ich will nicht mehr darüber reden müssen. Ich möchte das vergessen.“
So klingen Menschen, deren Leben wenn nicht zerstört so doch mindestens schwer beschädigt wurde.

Schrankenlosigkeiten

Man sitzt da und es fehlen einem die Worte. Sie kommen erst später zurück. Und während man aufschreibt, was man erlebt hat, ängstigt man sich längst vor dem eigenen Abstumpfen und fragt sich, ob das Unheil kategorisierbar ist. Ja. Das ist es. Aber was A. getan hat: eine Summe von widerwärtigen Schrankenlosigkeiten – von Selbstermächtigungen zum Lustgewinn. Man möchte weghören, aber die Geschichte muss erzählt werden. 20 Seiten hat man mitgeschrieben. Inaugenscheinnahme des Ungeheuerlichen. Am Ende schlägt man nichts nach. Es hat sich alles eingebrannt – jetzt wohnt diese Giftschlange im Kopf; räkelt sich, windet sich. Die eigene Seele: vermintes Terrain. Zwischendurch der Gedanke an die Angehörigen der Opfer: Sie sind in ihrem eigenen Leben zu Schuldigen geworden – zu Menschen, die sich vorwerfen, nicht genug hingesehen zu haben. Sie leben mit ihrer gefühlten Schuld – der Angeklagte hat, denkt man zwischendurch, seine Schuld beerdigt: Sie liegt unter dem Grabstein des Gestehens.

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