Davonzuschweben

Man reist versachlicht an. Pressekonferenz zur Jubiläumsausstellung: ‚Schatzhaus & Labor‘. Hatte man nicht – über die Jahre – die Superlative längst verbraucht? Was soll schon noch kommen im Silberjahr? Museum Kurhaus revisited? Von wegen …

Wie die ticken

Ein Rückblick wäre so einfach gewesen. Cosi fan tutte. Und dann: die erste Kleinigkeit. Während man das ‚Kassenhäuschen‘ ansteuert, fällt der Blick (zugegeben direktorengelenkt) auf eine Uhr an der Wand: Das Zifferblatt dreht sich. „Bei uns gehen die Uhren anders“, sagt der Chef. Fast hätte man‘s übersehen.
25 ‚Positionen‘ werden gezeigt: Good old buddies. Alte Bekannte. Man badet in Namen und freut sich: Akomfrah, Andre, Balkenhol, Blalock, Brenner, Erben, Fries, Fritsch, Genzken, Gertsch, Hütte, Indiana, Lewandowsky, Long, Merz, Penone, Prina, Ruff, Sailstorfer, Schmitten, Schneider, Schütte, Steinbach, Varga Weisz, Wald.

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Zentrifugal

Im Kopf rotiert das Gestern. Vorstellungsfragmente geraten in die Zentrifuge des Erinnerns. Wie einfach es gewesen wäre, einfach Vergangenes zu zeigen. Aber: Im Kurhaus gehen die Uhren anders. Die Künstler sind bekannt, aber „wir haben uns bemüht, von allen auch aktuelle Arbeiten zu zeigen“, sagt Harald Kunde. Der Blick zurück wird zum Blick ins Jetzt modelliert. Sammeln, Bewahren, Erforschen, Vermitteln.

Festakt

Man streift durch die Säle. Ein Rundgang wird zum Festakt. Man probiert dem Gesehenen Worte an: Kunstdünger für die Seele. Man möchte kein Ranking erstellen – alles hier ist ein Nebeneinander der Großartigkeiten. Die geplante Sachlichkeit wird – einmal mehr – in Staunen umgewandelt. Da ist er wieder: dieser Dialog von Kunst und Architektur. Das Haus – wieder einmal wird es einem klar – ist eine Umarmung für alles, was sich in ihm aufhält: das Große, das Kleine, das Überweltigende, das Unscheinbare. Im Kurhaus hat man den Vokaltausch gelernt: aus Überwältigung ist Überweltigung geworden.
Auf der Einladungskarte ist von der ‚Identitätsgeschichte‘ die Rede. Ja – das mag man unterschreiben und unterstreichen. Während man die Namen der Künstler durchstreift, fällt plötzlich auf, dass es 30 Namen sind. Ist die Geschichtsmathematik durcheinander geraten? Aber gar nicht.

Giuseppe Penone: Book trees.

Plus 5

Sie haben sich nicht mit dem Rückspiegel zufrieden gegeben, der – siehe oben – keiner war: Sie haben – quasi unter der Hand – fünf weitere Positionen aufaddiert. Novizen bespielen das Kurhaus und werden zu Garanten für den Blick nach vorn. Die Neuen im Ensemble: Yann Gerstberger, Franka Hörnschmeyer, Cristina Iglesias, Ragen Moss und Pietro Sanguinetti.
Was Harald Kunde, Susanne Figner und Valentina Vlasic inszeniert haben, ist ein fulminantvielstimmiges Konzert ohne Längen.
Teil des Konzertes ist „49 Aktenordner – Richard Long & und das Ausstellen von Ausstellungen“, kuratiert von Julia Moebus-Puck, die zwei Jahre lang das Archiv des niederländischen Kunstliebhabers gesichtet und digitalisiert hat. Die 49 Aktenorder fügen sich informativ in das Ensemble von ‚Schatzhaus & Labor‘ ein, denn die Ausstellung zeigt Kunst aus einer anderen Perspektive. Es geht um Kunst ‚über Bande‘: Es geht um das Ausstellen von Ausstellungen.

Leuchtspur

‚Schatzhaus & Labor‘ ist mehr als eine Ausstellung: Es ist eine Leuchtspur am Kunsthorizont. Die Ausstellung hat das Zeug, zur wichtigen Erinnerung zu werden, ohne dabei zu Geschichte zu erstarren. Überall finden sich Kommentare – überall wird Stellung genommen zur Welt, zum Denken und zu dem, was Kunst zur Kunst macht: zum Wunderbaren und zum Staunen, zum Fragen. Man steht vor einer gigantischen Arbeit von Giuseppe Penone: Holzbohlen aus der Entfernung. Man nähert sich und sieht, dass da einer aus diesen Bohlen wieder Bäume geschnitzt hat und man fühlt einen Spiegel – fühlt sich ertappt in der eigenen Oberflächlichkeit. Fast hätte man‘s übersehen.

Die Welt ausloten

Alles in ‚Schatzhaus & Labor‘ ist anrührend – alles lebt. ‚Schatzhaus & Labor‘ ist ein unglaublicher Atemzug – der unerschütterliche Beweis für die Tatsache, dass es nicht geht ohne die Kunst. Am Anfang lief man durch die Räume und erlebt, wie aus dem Gehen ein Schweben wird, das man mit nachhause nehmen kann. Im Kopf: Robert Indianas ‚Hope‘ und der Schädel von Katharina Fritsch: Das Ausloten der Welt in zwei Kunstwerken. Dazwischen: alles, was sich denkenfühlensagensehen lässt. Ein monumentaler Fußabdruck. Mannomann, denkt man: und das bei uns vor der Tür … Man wollte doch sachlich bleiben – und dann das.
Zur Ausstellung ist ein Katalog (35 Euro) erschienen, der daheim beim Weiterarbeiten an den gesammelten Eindrücken hilft. Zu sehen sein wird die Ausstellung bis zum 20. November.

Via Lewandowsky: Und dann das.
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