Die Unsichtbaren

KÖLN/KRANENBURG. Ein Samstag, 18.50 Uhr, Köln Deutz: Generalprobe im Staatenhaus – der momentanen Spielstätte für Oper Köln. Lena benutzt den Bühneneingang. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt. Auf dem Rücken steht: „Wir sind Oper / Köln“. Lena gehört zu den Unsichtbaren. Man denkt nie nach über all die Leute, die im Hintergrund arbeiten. Oper ist – wie Film und Theater auch – eine gigantische Gemeinschaftsarbeit. Die vorne auf der Bühne ohne das Dahinter nicht glänzen. Kein Vordergrund ohne Hintergrund.

Team Übertitel

Lena gehört zum ‚Team Übertitel‘. Früher hatte man ein Textheft – heute werden (fast) alle Opern – auch die in deutscher Sprache – übertitelt. „Das Format ist dabei unterschiedlich“, erklärt Lena. „In manchen Häusern werden Untertitel projeziert, bei uns gibt es die Texte entweder über der Bühne oder seitlich auf zusätzlichen Monitoren.“
Heute: Generalprobe für eine niederländische Produktion. ‚Upload‘ heißt das Stück. Lena gehört zu einem Team von vier jungen Frauen. Vor jeder Spielzeit wird festgelegt, wer welche Produktion betreut und wer sich um das Back-Up kümmert. „Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Wenn eine von uns beispielsweise krank wird, muss ja die jeweilige Produktion trotzdem laufen können.“ Dazu gibt es das Back-Up – eine Art Hintergrundbereitschaft. Lena: „Das ist ja bei den Sängern ähnlich. Die haben eine Zweitbesetzung. Wir auch.“

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Back-Up

Es ist die zweite Probe an diesem Tag. „Um 13.30 Uhr hat die erste Probe stattgefunden. Da war mein Back-Up dabei.“ Das ist – gerade bei einem hochkomplexen Stück wie ‚Upload‘ – unbedingt erforderlich.
Mittlerweile sitzt Lena an ihrem Arbeitsplatz – oben – hinter den Rängen. Vor sich hat sie ein Laptop und eine Partitur. Auf dem Laptopmonitor sind die ‚Folien‘ abgespeichert. ‚Folien‘ sind die einzelnen nummerierten Textabschnitte, die während der Aufführung ‚geschaltet‘ werden. „Bei ‚Upload‘ haben wir insgesamt 500 Folien. Für eine 90-minütige Produktion ist das relativ viel. Das liegt an den zahlreichen Filmdialogsequenzen.“ Was ist das Maximum? „Bei sehr langen Opern können es schon mal bis zu 1.200 Folien sein.“ „Auch für die Textabschnitte gibt es unterschiedliche Formate. Bei ‚Upload‘ sind die Übertitel maximal zweizeilig. Bei unseren Produktionen können es bis zu vier Textzeilen pro Übertitel sein.“

Den Dirigent sieht Lena nur auf dem Monitor.

Synchronität als oberstes Gebot

‚Upload‘ hat ein englisches Libretto. [Das Libretto ist quasi das Textbuch einer Oper.] Wer übersetzt eigentlich den Text? Lena: „Das machen in der Regel die aus unserem Team, die für eine Produktion zuständig sind. In diesem Fall habe ich also die Übersetzung gemacht.“ Auch hier ist es ein bisschen wie beim Film. Synchronität ist oberstes Gebot. Das heißt: Es geht nicht einfach darum, den Text zu übersetzen. Auch der ‚Ton‘ muss stimmen. Jeder Text hat seine ureigene Farbe – sein sprachliches Gewicht. Das gilt es abzubilden. „Und dann ist es eben wichtig, dass nicht aus einem englischen Einzeiler in der Übersetzung plötzlich drei Sätze werden. Das würde dann ja nicht passen.“

Mehr als sprachliche Grundausstattung

Die Übersetzung ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Das bedeutet: Sprachlich sollte bei den Leuten im Team mehr vorhanden sein als eine Grundausstattung. „Und man sollte sich ein bisschen auskennen mit Noten. Wir verfolgen ja an unserem Platz die Partitur. Dort finden sich an den entsprechenden Stellen die Nummern unserer Folien. Diese Zahlen werden zeichnen wir ein, denn sie sind natürlich nicht in der Originalpartitur.“
Neben Lenas ‚Folienlaptop‘ – ein kleiner Monitor: „Da sehe ich den Dirigenten. Auch das ist hilfreich für die Einsätze.“ Es wird klar: Übertiteln erfordert höchste Konzentration. Es geht – siehe oben – um Synchronität. Das Publikum soll die Übertitel idealerweise parallel zum gesungenen (oder gesprochenen) Text lesen.

Vier Proben

Apropos gesungen: ‚Upload‘ ist eine Film-Oper. Lena: „Der Komponist nennt das selber so.“ Es gibt gesprochene Strecken, die mit Musik ‚unterlegt‘ sind. Auch da gilt: Snychronität ist das erste Gebot. Was passiert eigentlich, wenn man sich „verfahren‘ hat? „Da geht es dann darum, sich schnell wieder zu orientieren.“ Die Probe wird 90 Minuten dauern. Lena wird sich nicht ein einziges Mal ‚verfahren‘. „Dass wir uns im jeweiligen Stück auskennen, hat etwas damit zu tun, dass wir eben nicht nur zur Generalprobe dabei sind“, erklärt Lena. Bei einer Neuproduktion sind die Frauen vom Übertitelteam bei vier Proben dabei. „Wenn es sich um eine Wiederaufnahme handelt, sind wir bei zwei Proben dabei.“ Das Team arbeitet eng mit der Abteilung Dramaturgie zusammen. „Während der Probenarbeit ändern sich Dinge. Zum einen geht es darum, Schreibfehler zu eleminieren, aber dann geht es auch um Inhaltliches. Wenn im Libretto eine der Personen goldenes Haar hat und in der Produktion die Rolle schwarze Haare hat, muss das natürlich geändert werden.“

Bregenz

In der Partitur von ‚Upload‘ kennt Lena sich bestens aus. Im vergangenen Jahr wurde das Stück bei den Bregenzer Festspielen aufgeführt und Lena war dort – quasi also Export der Oper Köln – dabei. Für Lena ist es mittlerweile die vierte Spielzeit. „Meine erste Produktion war Peter Grimes von Benjamin Britten.“ Auch Wagner hat sie ‚gemacht‘: Tristan und Isolde. Wie viele Produktionen waren es insgesamt? „Das müsste ich nachschauen. Das weiß ich jetzt nicht auswendig.“
Und was hört Lena, wenn es zuhause um Musik geht? „Gerade war ich mit meinem Freund in Hamburg und habe in der Philharmonie ein Konzert von ‚Bilderbuch‘ gehört.“ Mit anderen Worten: Es gibt ein Musikleben außerhalb der Oper? „Aber Hallo.“
Gibt es ein „Katastrophen-Best-Of“? „Natürlich geht mal was schief. Du verschaltest dich und musst dann wieder zurückfinden. Bei gesprochenen Dialogen kann es mal vorkommen, dass ein Sänger den Text etwas ändert.“ Da gilt dann: ruhig bleiben. „Einmal hatten wir einen Lichtausfall im kompletten Saal und ich habe mich mal in der Partitur verblättert. Da ist man dann spätestens nach der Textpause wieder dabei.“

Kleinigkeiten

Nach 90 Minuten ist die Generalprobe beendet. Alles hat geklappt. Es folgt: ein Gespräch mit der Dramaturgin. Kleinigkeiten: „Auf Folie 357 müsste noch ein Komma hin und bei 416 fehlte ein ‚t‘.“ Oder: „Vielleicht bekommen wir diese Formulierung noch etwas prägnanter hin.“ Oder: „Sollte das Wort ‚wir‘ auf Folie 210 kursiv geschrieben werden? Dann erschließt sich der Sinn schneller.“ Der Text auf der Folie lautet: „Die besten Dinge sind die, die wir aufgeben. Weil wir sie verlassen.“ Die Änderungen werden eingearbeitet. Premiere ist in zwei Tagen. Lena wird rund 45 Minuten vor Aufführungsbeginn Laptop und Partitur aus dem Teamschrank holen, an ihren Platz gehen und alles vorbereiten.
Wie kommt man eigentlich zu einem solchen Job? „Ich habe nach dem Abi zuerst ein Jahr bei einem Theaterprojekt in Bochum mitgemacht und anschließend ein FSJ (freiwilliges soziales Jahr) hier an der Oper gemacht. Irgendwann wurde ich dann gefragt, ob ich mir vorstellen könne, Mitglied im Übertitelteam zu sein. Seitdem bin ich dabei.“ Ach ja: Lena stammt aus Kranenburg. Sie hat – als Kind – Ballett getanzt, hatte Orgelunterricht und ihre Eltern sind Musiker.
21.20 Uhr: Probe und Anschlussbrechung mit der Dramaturgin sind beendet. Auf dem Weg zum Bühnenausgang wird wieder einmal deutlich, wie viele Menschen hinter den Kulissen dafür sorgen, dass Oper stattfindet. Sie alle stehen nie auf der Bühne, aber ohne die Unsichtbaren wäre Oper ein traumloses Etwas – ein Ort ohne Zauber.

Die Partitur im Blick.
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