Ein Zauberer in Zivil

REES. Georg Friedrich Schenck reist mit der Bahn an. Er hat kein Auto. Keinen Führerschein. Es geht um andere Dinge in seinem Leben. Schenck kommt zur Anprobe. In zweieinhalb Wochen – das Konzert: Brahms.

Intime Verbindung

Der Pianist hat zwei Tragetaschen dabei. In den Taschen: Jeweils eine Klavierbank. Horowitz reiste mit eigenem Flügel an. Damals. Man muss das vielleicht erklären. Geiger, Flötisten, selbst Kontrabassspieler reisen mit Instrument an. Das Instrument: die intimste Verbindung des Musikers zu den Tönen. Pianisten treffen ein und sind Ausgelieferte: Da steht ein fremdes Instrument. Eine Beziehung auf Zeit entsteht.

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Zwei Bänke

Schenck also hat zwei Klavierbänke dabei. Ein 1,90 Mann mit diesen winzigen Sitzgelegenheiten. Schenck nimmt sich die Zeit für eine Erkundung. Es ist die notwendige Inbesitznahme eines Terrains. Eine Trio-Sonate: Brahms, der Flügel, der Übersetzer: Schenck. Die erste Amtshandlung: Flügelrücken. „Es ist wichtig, wo der Flügel steht. Das ändert den Klang im Raum.” Zehn Zentimeter können zur Welt werden. „Hörst du das?”, fragt Schenck. „Es klingt jetzt ganz anders.” Dann ist der richtige Platz gefunden. „Jetzt ist es gut.” Schenck packt die Tragetaschen aus – schraubt den Klavierbänken Beine an. Auch das ein Bild: Beine anschrauben. Inszenierte Gehfertigkeit. Ende des ersten Aktes. Die Vorbereitungen sind getroffen. Schenck zieht den Mantel aus. Öffnet den Flügel. Setzt sich. Beginnt zu spielen. Der Raum füllt sich mit Tönen: Brahms. Dann eine letzte Platzkorrektur: der Pianist auf allen Vieren. Am Boden. Die Feststellbremsen der Flügelrollen werden angezogen. Zurück auf das Bänkchen.

Ein Flirt

Jetzt also die erste Annäherung. Ein Flirt. Der Blick des Pianisten: unscharf ins Weite gerichtet. Ein Dialog: Gespräch mit dem Raum, dem Flügel, den Befindlichkeiten. Zwischendurch: Kommentare. Fragen. „Was siehst du?” „Ein Lächeln.” „Was hörst du?” „Ein Lächeln.” „Das hängt zusammen”, sagt Schenck. „Was siehst du?“ „Ein Sehnen.“ „Was hörst du?“ „Eine Art Schmerz.“ Alles wird zur Einheit. Ein Gesicht wird zum Kontinent. Wenn sie jetzt den Ton abdrehen würden – bliebe die Pantomime.
Schenck und die Musik sind wie Schenck und die Klaviersitzbank: Er montiert die Beine, damit die Töne ausschwärmen können. Aus dem Anprobieren wird eine Klangepisode. Brahms‘ Klaviersonate Nr. 3 f-moll. „Das hat der in Düsseldorf geschrieben. Da war er gerade 20.” Der Raum atmet Musik. Wie soll man beschreiben, was da passiert? Schenck gräbt die Töne um – die Strukturen. Da bläst einer in die schlafende Glut. Funken erwachen. Der Suchscheinwerfer kreist über der Partitur. Das Stück explodiert, implodiert. Schenck bereist die Landschaft der Töne: schickt Ansichtskarten aus dem Brahms-Nationalpark.

Narben

Er probiert Stellen aus – zeigt, wie Finger sich positionieren müssen, damit Klänge entstehen. Von der samtigzarten Berührung arbeitet er sich zum klauenharten Angriff vor. Und immer wieder: „Was hörst du?“ „Ich höre…“ Die Sonate fließt ins Finale. Alles endet in einer erschöpften Stille. „Schweres Stück”, sagt Schenck und ich muss an Herbert Truczinski denken. Herbert gehört eigentlich in Grass‘ Blechtrommel. Herbert hat einen vernarbten Rücken. Er war Kellner in einer Seemannskneipe. Geriet in Prügeleien. Messerstechereien. Am Ende: Narben. Jede Narbe: eine Geschichte. Zeigt einer auf die Narbe, erzählt Herbert die Geschichte. Schencks Brahms-Stücke: Narben allesamt. Du zeigst auf ein Stück – Schenck erzählt die Geschichte. Alles an und in ihm wird zur Geschichte. Am Ende sagt Herbert: „Und das ist de Narbe” – man hört Truczinskis kaschubischen Ton.
Schencks Ton ist nicht kaschubisch. Er wurde in Aachen geboren. Schenck schlüpft in die Brahms-Haut. Jetzt – hier. Der Pianist wird zum Komponist: Da spielt einer als erfände er gerade jetzt, was da gespielt wird. Schenck liefert Strukturen an. Jede Geschichte: aufgeteilt in Untergeschichten. Ein Kosmos entsteht.

Kein Platz

Was Schenck dem Flügel diktiert: Komplizierteste Strukturen. Was da gespielt wird, lässt keinen Raum: Es besetzt den ganzen Kerl. Nimmt jeden Platz ein. Es bleibt nichts mehr für den Pianisten. Und dieses Nichts nimmt Gestalt an: ein Wunder. „Ich bin ein alter Mann”, sagt Schenck, „aber die Finger tun es noch.” Schenck ist kein alter Mann. Er ist Jahrgang `53. Er ist ein Mann mit Erfahrung. Alles Üben, alles Nachdenken, alles Empfinden ist zu Musik geworden. Trotzdem ist kein Verlass. Jedes Konzert – jede Minute des Probens: ein Duell. Nichts ist sicher. Da ist Schenck. Da ist die Musik. Dann findet Umarmung statt. Umklammerung. Meistens. Vielleicht finden sie manchmal nicht gleich zueinander – Schenck und die Töne.

Umstellung

Nach der ersten Stunde taucht diese Idee auf: „Vielleicht sollten wir das Programm umstellen. Die Sonate nach vorn – die Klavierstücke und die Ungarischen Tänze nach hinten.“ In der Schwere beginnen. In der Leichtigkeit enden. Zuerst die Sonate – danach 14 Zugaben. Was für ein Feuerwerk. „Die Ungarischen Tänze sind wahnsinnig schwer. Wahnsinnig anstrengend.“ Eigentlich, sagt Schenck, müsse zwischendurch applaudiert werden, damit man zu Kräften kommen könne.

Schichtungen

Er bläst in die schwelende Glut der Tänze. Haucht Leben ein. („… und das ist de Narbe …“) Zwischendrin steht Schenck auf, wandert um den Flügel. Ein Mal. Zwei Mal. Drei Mal. Zwei, die sich etwas zu sagen haben und jetzt kurz innehalten. Sie haben sich unterhalten. In aller Ausführlichkeit. In aller Intimität. Jetzt wirkt es, als würde nachgedacht. Auf beiden Seiten.

Jonglage

Dann nimmt Schenck wieder Platz. Neue Töne. Neue Klänge. Neue Welten. Schenck erzählt von den Ebenen der Klänge. Er spricht von ‚Layern‘ – Schichten also, die man kombinieren kann: übereinander, untereinander, nebeneinander. Da liegt das Geheimnis. Beim Spielen: die Jonglage. Das Stück weist den Weg. Aus einer terra incognita werden Landschaften, in die man reisen kann. Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zuges. Draußen die Landschaft: Felder. Wald. Wiesen. Wasser. Feuer Eis. Landschaften entstehen. Beginnen zu leben. „Hier – so kann es klingen. Oder so.” Schencks Gesicht: ein Kontinent. Der Klang: eine Welt. Da entkommt ein Riese auf einem Höckerchen der Schwerkraft: macht sich aus dem Staub. Zeigt Luftbilder von Tonsiedlungen. Fliegt zurück in den Anziehungsbereich des Klangplaneten. „Hör mal, wie der Raum wächst.“

Geschenkt

Längst ist man in Hypnose. Da demonstriert einer den Weg – nicht das Ziel. Die ungarischen Tänze: aus der Hocke, von oben, von der Seite. Von innen. Von außen. Fast möchte man mitklatschen – sich dem Rhythmus ergeben: den Kaskaden – den Kapriolen. Man sitzt da und weiß jetzt, woraus das Glück gemacht ist, Dasitzen. Zuhören. Was man erlebt hat – drei Stunden lang: ein Geschenk. Auch das Glück hinterlässt ein Narbe, denke ich.
Am Ende steht der Geschichtenerzähler auf, schraubt den beiden Klavierbänke die Beine ab, verstaut alles in den Tragetaschen. Fast ist es, als wäre nichts passiert. Aber das Leben ist reicher geworden. „Es könnte gut werden”, sagt Schenck. Wenn er jetzt in den Zug steigt, denke ich, ist er wie alle anderen. Ein Zauberer in Zivil.Heiner Frost

Am Mittwoch, 30 März, um 20 Uhr spielt Schenck im Bürgerhaus Rees.

Das Programm:

Johannes Brahms
1833 – 1897

Klaviersonate Nr. 3 f-moll, op. 5
Allegro maestoso
Andante Andante espressivo
Scherzo Allegro energico
Intermezzo (Rückblick)
Finale Allegro moderato ma rubato – Presto

Pause

Klavierstücke opus 76 (1879)
Nr. 1: Capriccio fis-moll. Un poco agitato
Nr. 2: Capriccio h-moll. Allegretto ma nom troppo
Nr. 3: Intermezzo As- Dur. Grazioso
Nr 4.: Intermezzo B-Dur. Allegretto grazioso
Nr. 5: Capriccio cis-moll. Agitato, ma non troppo presto
Nr. 6: Intermezzo A-Dur. Andante con Moto
Nr. 7: Intermezzo A-moll. Moderato semplice
Nr. 8: Capriccio C-Dur. Garzioso ed un poco vivace
Ungarische Tänze, Werk ohne Opuszahl (1872)
Nr. 2: d-moll. Allegro assai
Nr. 3: F-Dur. Allegretto
Nr. 4: fis-moll. Poco sostenuto
Nr. 6: Des-Dur. Vivace
Nr. 7: F-Dur. Allegretto vivace
Nr. 9: e-moll. Allegro

 

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