Es fehlt noch an validen Daten

KREIS KLEVE. Kürzlich veröffentlichten sowohl das Land Nordrhein-Westfalen als auch die einzelnen Polizeibehörden – so auch die Kreispolizeibehörde Kleve – die Kriminalstatistik für das Jahr 2021. Zwei Dinge schienen in beiden Statistiken erwähnenswert: Einerseits gab es einen leichten Rückgang der allgemeinen Zahlen im Bereich Kriminalität. Dem gegenüber stehen stark angestiegene Zahlen im Bereich Sexualstraftaten.

Gespräch mit Dr. Jack Kreutz

Gibt es – wie man denken könnte – pandemische Zusammenhänge? Ein Gespräch mit dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Gutachter Dr. Jack Kreutz.

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NN: Herr Dr. Kreutz – es wäre wahrscheinlich eine unzulängliche Verkürzung, wenn man sagte, dass der Anstieg der Fallzahlen auf die Pandemie zurückzuführen ist.
Kreutz: Das ist richtig. Wir müssen uns klarmachen, dass es bisher keine Studien gibt, die uns valide Daten zur Verfügung stellen. Da spielt sich also Vieles im Bereich des Spekulativen ab.

NN: Strafkomplexe wie Lüdge haben ja zu enormen Datenmengen geführt. Das wiederum hatte zur Folge, dass Straftaten aufgedeckt werden konnten, die sonst vielleicht nicht entdeckt worden wären.
Kreutz: Auch da bewegen wir uns natürlich zum Teil auf spekulativem Terrain.

NN: Scheinwerfereffekt?
Kreutz: Das kann man sagen. Wohin mehr Licht fällt oder gerichtet wird, sind natürlich andere – sprich: mehr Dinge zu entdecken. Außerdem denke ich, dass wir zwischen Hands-On- und Hands-Off-Delikten unterscheiden müssen.

NN: Hands-On, Hands-Off?
Kreutz: Die Sache ist relativ einfach. Zum einen gibt es Straftaten, bei denen Menschen Dinge aus dem Internet herunterladen, die dann als Dateien auf Computern oder Speichermedien vorhanden sind. Das nennen wir dann Hands-Off-Delikte. Bei den Hands-On-Delikten sprechen wir von Tätern, die aktiv Sexualstraftaten durchführen.

NN: Sollte man das abstufen? Ist nicht Hands-Off genau so schlimm wie Hands-On?
Kreutz: Im Prinzip haben Sie natürlich Recht. Es gibt auch da Opfer, denn das Material hat im Vorfeld Menschen zu Opfern gemacht. Andererseits sind Abstufungen wichtig. Durch die Verfügbarkeit im Internet sind – übrigens in den meisten Fällen – Männer eher geneigt, auf das vorhandene Material zuzugreifen. Nicht selten ist das dann mit einem fehlenden Unrechtsbewusstsein kombiniert. Da hat – man muss es leider so sagen – das Internet Möglichkeiten eröffnet, die es früher nicht gab. Die Schwelle ist erheblich niedriger geworden. Wichtig erscheint mir die Klarstellung: Auch bei Hand-Off-Delikten sprechen wir von Tätern. Niemand aus dieser Tätergruppe soll sagen, er – respektive natürlich auch sie – habe nicht um das Verbot gewusst, das mit solchem Material verbunden ist.

NN: Ich habe mal einen Prozess erlebt, wo der Richter dem Angeklagten sagte: Dadurch, dass Sie solches Material herunterladen, also einen Bedarf anzeigen, signalisieren Sie, dass sich die Produktion solches Materials lohnt.
Kreutz: Es ist meines Erachtens einfach noch nicht klar, ob der Anstieg der Sexualstraftaten an Corona und den Lockdown gekoppelt werden kann. Man kann ja auch der Meinung sein, dass die Zahl der Straftaten nicht signifikant angestiegen ist – sehr wohl aber – siehe oben – aus verschiedensten Gründen mehr Erfolge bei der Au fdeckung stattgefunden haben.

NN: Womit wir wieder bei Lüdge wären.
Kreutz: Lüdge ist da nur pars pro toto zu sehen. Es gibt ja längst viel mehr aufgedeckter Tatkomplexe; und das nicht nur bei uns in Deutschland, sondern europa-, wenn nicht gar weltweit.

NN: Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die Zahl der Gewalttaten – vor allem im familiären Umfeld – durch die ‚Kasernierung‘ im Zuammenhang mit dem Lockdown gestiegen ist.
Kreutz: Gewaltdelikte ereignen sich sowohl im inner- als auch im außerhäuslichen Bereich. Wenn lockdownbedingt der eine der beiden Bereiche quasi wegfällt, hat das natürlich – wir reden jetzt vom außerhäuslichen Bereich – einen Rückgang der Zahlen zufolge. Jetzt kann es sein, dass es im häuslichen Bereich zu einem Anstieg der Zahlen gekommen ist, aber auch da fehlt es noch an validen Daten. Ob es dadurch vermehrt zu sexuellen Übergriffen kommt – ich wiederhole mich – lässt sich so nicht sagen.

NN: Wie sieht es mit den Dunkelziffern aus?
Kreutz: Wir sind in der Vergangenheit immer von hohen Dunkelziffern ausgegangen. Die Anzahl der aufgeklärten Taten – vielleicht sollte ich besser von bekannt gewordenen Taten sprechen – gestiegen ist. Leider sagt aber auch das nicht notwendigerweise aus, dass wir das mit einem Rückgang der Dunkelziffern gleichsetzen können. Dunkelziffern bedeutet eben: Wir wissen es nicht. Infolgedessen sind auch da nur Vermutungen zu machen. Was wir nicht kennen, können wir nicht erfassen.

NN: Merken Sie den erwähnten Anstieg der Zahlen in der täglichen Praxis?
Kreutz: Erst einmal nicht, denn Verfahren, in denen ich dann als Gutachter tätig werde, finden ja zeitlich versetzt statt. Die Dinge kommen bei uns Gutachtern ja mit ein, zwei, manchmal drei Jahren Verspätung auf den Tisch. Genau gesagt ist es natürlich keine Verspätung – es ist einfach der zeitliche Versatz, der zwischen der Entdeckung, der anschließenden Ermittlung und dem schließlich stattfindenden Prozess entsteht. Dazu kommt noch, dass nicht alle Fälle beim (selben) Gutachter landen. Auch da ist es also sehr schwierig, eine valide Aussage zu machen. Aus meiner Praxis kann ich derzeit nicht von einem deutlichen Anstieg sprechen.

NN: Manchmal denkt man dann, wenn in der Verhandlung ein Täter sagt, er wusste nicht, dass der Besitz von solchem Material strafbar ist: Wie gut, dass manche es schaffen, auf Kommando ahnungslos zu sein.
Kreutz: Das Unbedarftsein kann in manchen Fällten natürlich taktische Gründe haben – das muss aber nicht immer der Fall sein. Das wäre aber schon ein Thema, das Sie mit Verteidigern besprechen sollten.

NN: Die gestiegene Anzahl von Sexualstraftaten ist besorgniserregend, aber man sollte mit voreiligen Schlüssen tunlichst vorsichtig sein.
Kreutz: Dem würde ich nichts hinzufügen.

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