Der Tod des Herrn B.

Vor Gericht gilt unter anderem der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Manchmal allerdings stellt sich heraus, dass der Zweifel nicht gebraucht wird. Es gibt eine Unschuld ohne Zweifel. Und dann gibt es …

Drei Ärzte

Der Prozess begann mit drei Angeklagten: Ärzte allesamt. Die Anklage: Fahrlässige Tötung. Starker Tobak. Was ist passiert?
Ein Mann ist zu Tode gekommen. Die Geschichte: alles andere als einfach. Herr B. war Krebspatient: Lungenkarzinom. Gestorben ist er am Ende infolge einer Bauchfellentzündung. Und das kam so: Nach Entfernung eines Lungenflügels ging Herr B. in die Reha. Er kam, sagt seine Witwe, topfit und guter Dinge zurück. Krebsfrei sei er, soll auch der behandelnde Arzt gesagt haben. Trotzdem wird – gewissermaßen prophylaktisch – Bestrahlung empfohlen. Die Speiseröhre von Herrn B. entzündet sich infolge der Strahlentherapie. B. kann kaum noch Nahrung zu sich nehmen. Eine Magensonde PeG [Perkutante endoskopische Gastrostomie] wird gelegt. Kein Ding. Ein Routine-Eingriff. Das sagt später ein Gutachter.

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Lege artis

Die Sonde wurde – auch das sagt der Gutachter – ‚lege artis‘ (nach den Regeln der Kunst also) gelegt. Nach dem Einsetzen der Sonde klagt B. über Schmerzen. Schmerzen nach dem Legen einer Sonde? Eine normale Sache. Es handelt sich schließlich um einen invasiven Eingriff. Auch das sagt der Gutachter. B. s Schmerzen allerdings lassen nicht nach. Sie werden schlimmer. Unerträglich sollen sie gewesen sein.

Alles normal

Die Ärzte verschreiben Schmerzmittel. Verschiedene Ärzte inspizieren B.s Bauchdecke. Sie stellen nichts fest, was besorgniserregend wäre. Alles fühlt sich normal an. Keine Verhärtungen sind beim Abtasten der Bauchdecke zu spüren, aber B.s Schmerzen werden schlimmer. Am Ende stirbt er einen qualvollen Tod. Bei der Obduktion wird eine Bauchfellentzündung festgestellt. Circa 500 Milliliter der Nährlösung sind nicht in B.s Magen sondern in die Bauchhöhle gelangt. Die Folge: Bauchfellentzündung, Exitus. Die Staatsanwaltschaft klagt drei Ärzte an – siehe oben: Es geht um fahrlässige Tötung.

Gibt es ein Versagen?

Die Frage: Wer hätte wann was tun müssen, können, sollen? Gibt es eine Schuld? Gibt es ein Versagen? Am Ende verneint die Richterin ein schuldhaftes Verhalten. B.s Witwe kämpft mit den Tränen. Man spürt, dass sie eine andere Klärung erwartet hat.

Zuständigkeitsgeflecht

Was hat man gesehen: Drei Menschen in einem Geflecht von Zuständigkeiten und Nicht-Zuständigkeiten. Drei Menschen auch, von denen einer am Ende des ersten Verhandlungstages die Einstellung des Verfahrens gegen eine Zahlung von 1.000 Euro (an den Kinderschutzbund) akzeptierte. Die Anwälte der beiden anderen wollen einen Freispruch … und bekommen ihn.
Zurück in das Netz der Verantwortlichkeiten. Man kann das Urteil der Richterin nachvollziehen – aber auch den Schmerz der Witwe. Man kann die Erschütterung nachvollziehen: Es ist die Erschütterung des Urvertrauens in die ärztliche Kunst. Es muss doch irgendwo etwas nicht gestimmt haben, denkt man.

Tod ohne Schuld

Da ist ein System, das einerseits die Dinge wieder und wieder dokumentiert und im selben System kommt ein Mensch zu Tode, ohne dass es eine Schuld gibt. Natürlich: Es gibt Tode, die erwartbar sind. Es müssen keine Fehler geschehen sein, wenn Menschen gestorben sind. Herr B. – das hat die Gerichtsmedizinerin der Witwe gesagt – war keineswegs krebsfrei.
War die Bauchfellentzündung todesursächlich? War es ein Darmverschluss? Wie konnte die Nährlösung aus B.s Magen in die Bauchhöhle gelangen? In der Anklage hatte es geheißen: „Die Schmerzen beruhten darauf, dass – wie später festgestellt wurde – die Halteplatte der Sonde im Inneren des Magens aus nicht mehr nachzuvollziehenden Gründen die Magenwand durchdrungen hatte und sich nunmehr in der Bauchhöhle befand. Infolgedessen waren im Lauf der Zeit etwa 500 Milliliter Sondernahrung in den Bauchraum gelangt, was wiederum zu einer massiven Bauchfellentzündung führte.“ Die entscheidende Passage: Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen. Die Frage: Wie ist es möglich, dass niemand dergleichen bemerkt hat?

Zweifel am System

Den Angeklagten, man spürt das bei ihren letzten Worten, ist der Tod des Herrn B. nahe gegangen. Man hat nicht den Eindruck, dass die beiden Ärzte „Sprüche klopfen“. Trotzdem kommen Zweifel an der Funktionalität eines Systems auf, das Qualität dokumentiert und gleichzeitig Verantwortlichkeiten verschiebt. Es ist dasselbe System, dem man wünschen würde, dass es in Sachen Personal besser aufgestellt wäre. Gesundheit und Menschenleben sind keine Produkte, die sich nach Wirtschaftlichkeiten richten sollen. Nur am Rande war diese Verkettung von Unmöglichkeiten zu ahnen. Gesundheit ist, denkt man, zur Ware verkommen: ein Produkt wie andere auch. Ärzte sind Ärzte, denkt man, weil sie helfen wollen und am Ende gegen Verunmöglichungen anarbeiten müssen. Die Prozessbeteiligten haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles gegeben. Die Richterin ist in ihrer Urteilsbegründung zu allerst auf die Schmerzen der Witwe eingegangen. Trotzdem gab es – nach Lage der Dinge – keine andere Entscheidungsmöglichkeit.

Spielregel

Die Gerichtskosten trägt die Landeskasse. B.s Witwe wird die Kosten ihrer Nebenklage selbst zu tragen haben. Das ist Teil der „Spielregel“. Man wünschte, es wäre anders. Aber im Gerichtssaal geht es nicht ums Wünschen. Gibt es eine Erkenntnis? Vielleicht diese: Wenn jeder sich bemüht, alles richtig zu machen, sind Katastrophen trotzdem möglich. Und: Menschenleben sind der höchste Preis, den es als Lehrgeld zu zahlen gibt. All das kann eine Witwe nicht trösten, denn ihr Verlust ist unwiederbringlich.

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