Die Choreographie der Welt

KLEVE. Wiedererkennen kann verschiedene Intensitäten haben. Man trifft einen Typ auf der Straße, der irgendwie an einen anderen erinnert und dann – hinter der nächsten Ecke läuft man dem eigenen Doppelgänger in die Arme …

Sehr bekannt

Für Sigrun Hintzen war es eher die Begegnung der zweiten Art, als sie in einer Doktorarbeit, die nicht ihre war, bekannte Dinge entdeckte. Sehr bekannte Dinge. Auch mit dem Wissen ist es so eine Sache. Manches hat man schon mal irgendwo gelesen. Wissensschwaden. Anderes hat sich fest eingeprägt. Und dann ist da das, was man selber geschrieben hat. Sigrun Hintzen staunte nicht schlecht: Da hatte einer – mehr als ein Dutzend Mal – auf einen ihrer Texte „zurückgegriffen“. Die Musikwissenschaftlerin nahm Kontakt zum Verlag auf, der die Dissertation veröffentlicht hatte. Am Ende entstand ein Projekt, das nun in Buchform vorliegt. „Beuys und die Musik“ – es ist gewissermaßen das Original, sprich: eine Arbeit die Hintzen – damals noch unter ihrem Mädchennamen Speh –1992 an der Universität zu Köln einreichte, wo sie im Nebenfach Kunstgeschichte studierte.

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Vergesslich

Allein die Geschichte der Arbeit ist spannend. Hintzen sorgte dafür, dass „Beuys und die Musik“ im Beuys-Archiv des Museums Schloss Moyland landete, wo der in Bezug auf geistiges Eigentum offensichtlich sehr vergessliche Doktorand darauf aufmerksam wurde. „Meine Professorin Dr. Antje von Graevenitz vom kunsthistorischen Institut riet mir damals zu einer Dissertation.“ Hintzens Antwort: “Kann ich nicht. Möchte ich nicht. Mache ich nicht.” Einer der Gründe: Schwierigkeiten in puncto Bilderrechte.
Als Hintzen vor 30 Jahren ihre Arbeit schrieb, war Beuys gerade fünf Jahre tot – die Rezeptionsgeschichte eine andere. Ein wichtiger Schritt während der Recherche war ein Gespräch mit Hans van der Grinten. Der sagte seinerzeit einen Satz, der sich im jetzt erschienen Buch als Anfangszitat – also „Vorwort“ also „Vorsatz“ findet: „Die Musik war bei Beuys eine Art innerer Disposition.“ Haltstopp: War denn der Beuys nicht bildender Künstler? War er.

Eine wichtige Rolle

Aber zeitlebens spielte Musik für ihn eine wichtige Rolle. In seiner Jugend hatte er Klavier- und Cello-Unterricht. „Ein Freund des bürgerlichen Musikbetriebes war Beuys allerdings nicht“, sagt Hintzen, die heute unter anderem die Kuratorin der Konzerte der Stadt Kleve ist. Ausdrücke wie – jetzt mal kurz weghören – „Konzertscheiß“ oder „geducktes Virtuosentum“ wurden heftig diskutiert. Beuys war einer, der von seiner Musik sagte, dass sie nicht das Ergebnis einer Tradition sei – nicht auf den Schultern von Vorgängern entstanden, sondern „Musik aus der Zukunft“. Unweigerlich denkt man an Stockhausen. Natürlich lässt sich trefflich über die Unmöglichkeit streiten, aber Kunst ohne Angriffsfläche ist nicht mehr als Tapete in verbürgerlichten Wohnzimmern.

Der innere Ton

Im Beuys-Kosmos spielte die Musik immer wieder eine große Rolle – sei es in realen Tönen, sei es in der Objektwerdung von Instrumenten, von denen Beuys, so sagt es Sigrun Hintzen, überzeugt war, dass ein jedes einen „inneren Ton“ besitze. Kein Wunder, dass Hintzen in ihrem Buch zuerst einmal der Frage nachgeht: „Was hat Beuys mit Musik zu tun?“ Beuys: „Sagen wir einfach, das Akustische und das Tonelement ist vielleicht ein wichtiger und genauerer Begriff, als einfach nur von Musik zu sprechen. Das zieht mich ganz weg vom traditionell Musikalischen. Es ist nicht so, als würde ich ständig Konzerte hören. Die höre ich fast nie. Ich interessiere mich generell und im Prinzip für die Musik. Aber hauptsächlich für eine akustische, geräuschmäßig, tonmäßige Choreographie der Tätigkeiten meiner Arbeit und für die Choreographie der Welt.“
Wer das Inhaltsverzeichnis von „Beuys und die Musik“ durchstöbert, findet schon bei den Überschriften Leseanreize. Wie wär‘s mit: „Klavierspiel nach Sauerkraut“ oder „Das Erdklavier“, „Flügel in Filz und der größte Komponist der Gegenwart“ oder „Ein Hirschdenkmal und ein Konzert für George Maciunas“?

Kein Kauderwelsch

Man braucht für Hintzens Reise zu Beuys und der Musik keinen Waffenschein – der Text ist weit entfernt vom fachchinesischen Kauderwelsch und trotzdem erkenntnisbefördernd.
Für die Autorin spannend: „Der Text ist ja nun 30 Jahre alt. Das Manuskript von damals musste ich erst einmal abtippen. Ich war mir nicht sicher, ob der Text noch funktionieren würde. Mich hat erstaunt, dass ich am Ende nur ein paar Kleinigkeiten geändert habe. Ich hatte nicht das Gefühl, dass man dem Text sein Alter anmerkt.“
„Beuys und die Musik“ ist ein bilderfreier Text. „Um überhaupt eine Genehmigung zu bekommen, hätte ein komplett gelayouteter Entwurf vorliegen müssen. Dazu bekamen wir die Information, dass es in diesem Jahr nichts geworden wäre“, sagt Hintzen. Die anfallenden Kosten für die Rechte einerseits und den Ankauf des entsprechenden Materials andererseits hätten das Projekt wahrscheinlich verunmöglicht. Auf dem Titel von „Beuys und die Musik“ findet sich nun ein Ausschnitt aus „Beuys: Ja ja ja ja ja, Nee nee nee nee nee – Notation von Edi D. Winarni“.

Sigrun HIntzen. NN-Foto: Rüdiger Dehnen

Was ist eigentlich aus der Dissertation des vergesslichen Doktoranden geworden? Der Tectum Verlag hat dessen Buch aus dem Programm genommen. Gut so: Es gibt ja das Original. Das ist zum Preis von 26 Euro im Buchhandel zu haben. Wer es nicht nach Kleve zu Hintzen schafft, sollte die ISB-Nummer kennen: ISBN-978-3-8288-4666-1. Beeilung tut Not. Die 1. Auflage ist – wie bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen üblich – mit 150 Exemplaren „überschaubar“. Aber: es kann ja nachgelegt werden.

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