Letter from London oder: Raupe, Puppe, Schmetterling

Die Maske hilft. Sie verbirgt das Gröbste. Man dreht sich kurz weg: Muss ja niemand merken, dass man bis zum Kern, bewegt, gerührt, ergriffen ist. Aber schreiben darf man‘s. Es muss raus.

Selten genug

Wie lange schreibt man schon über Kunst: Ausstellung hier, Ausstellung dort. Man kennt sich aus in der eigenen Befindlichkeit. Dachte man. Dass da eine Ausstellung auftaucht, die einen zu Tränen rührt, kommt selten genug vor. Musik, denkt man, ist von Vermittlung abhängig. Die wenigsten können eine Partitur lesen, ohne das Klänge ertönen. Kunst, dachte man, ist doch anders. Alles ist schon fertig – muss nur gesehen werden. Diese Ausstellung ändert die Sichtweise.

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Pustekuchen

Es ist das Beuys-Jubiläums-Jahr. Die Botschaften: unendlich. Alles ist gesagt – nur noch nicht von allen. Pustekuchen. Da laden drei Kuratoren (Gastkurator Wolfgang Zumdick zusammen Susanne Figner und Harald Kunde) zu einer Beuys-Besichtigung ein, die etwas von der Liebe zu den Bildern erzählt. Ja – Beuys kommt vor: er ist der Beschicker, der Zuverfügungsteller, der Urheber. Aber da sind auch die Kuratoren, die alle Räume mit Poesie aufladen. Man betritt den ersten Raum und alles beginnt mit einem sprachlosen Staunen. Da haben drei Kuratoren einen Rhythmus angeschlagen, den man so noch nicht zu sehen bekam. Da bauen sie einen Trichter, in dem man versinken möchte. Da geben sie einem Künstler seine Unschuld zurück. Klingt alles irgendwie verdammt sentimental. Ist es auch. Sentimental, aber eben nicht rührselig – nicht klugbetend. Man betritt ein Kinderzimmer – da ist der Raum, in dem Ursprung zu Sprache findet. Es geht nicht um eine Sprache der Buchstaben – es geht um eine Sprache der Gedanken, des Hinfühlens, Wegschwebens.

Frühstadium

Zu sehen ist Beuys im Frühstadium: Es geht um die Jahre `45 bis `62. „Intuition! Dimensionen des Frühwerks von Joseph Beuys.“ Man spürt die Kernbegriffe an der Wand: Intuition, Dimension. Da wird etwas deutlich. Da ist, denkt man, ein Künstler auf dem Weg in die Verwandlung: Raupe. Puppe. Schmetterling. Das Wunder der Ausstellung ist die Gleichzeitigkeit: Alles ist da. „Intuition!“ ist die Besichtigung einer Eizelle. Ein Seelenrundgang. Es ist die Besichtigung eines Werkes am Punkt der Unschuld – an jenem Punkt, der zwar allen Zugriff bietet, aber noch keine Inbesitznahme erdulden musste.
Es ist doch, denkt man, alles Drumherumschreiben ein großer Quatsch. Wer Augen hat zu sehen und die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Seelenkern nicht gekappt hat, der muss es doch merken. Man kann, denkt man, angesichts einer solchen Einstellung, alles Erklären einstellen und man sollte alle Texte von der Wand kratzen. Dies eine Mal sind Weg und Ziel zur Funktionseinheit geworden.

NN-Foto: Rüdiger Dehnen

Unsichtbar

Manche der Bilder sind hinter schwarzem Stoff verborgen. Das hat konservatorische Gründe. Es geht um Lichtempfindlichkeiten. Aber es ist irgendwie auch eine Botschaft: Sie handelt von der Eroberung des zu Sehenden. Da wird plötzlich und wunderbar deutlich, was Kunst im Eigentlichen ist: Es geht darum, Vorhänge zu heben und dann einen intimen Blick auf die Einmaligkeit zu werfen. Es geht darum, die Bilder aus der Unsichtbarkeit zu holen – ihnen zu diesem einen Auftritt zu verhelfen, der niemals mehr wiederholbar ist. Man schließt den Vorhang – natürlich kann man ihn wieder öffnen, aber dann ist da eine andere Welt. Das Sehen wird zum Nachdenken über die Endlichkeiten. Aber „Intuition!“ ist kein Ausflug in die Unsäglichkeiten der Museumspädagogik – „Intuition!“ ist die Eintrittskarte in die Galaxie des Unberührbaren.

Vor dem Trubel

„Intuition!“ zeigt einen zerbrechlichen Beuys – einen Beuys vor dem Trubel. Vor dem Rummel. Eben hier liegt das Unglaubliche. Die Leichtigkeit. Und in allem Anfang steckt immer schon die Schwere der Endlichkeit. „Intuition!“ löst sich vom altgewohnten exekutiven Hängungsbild und -rhythmus und schafft eben so die wunderbare Leichtigkeit des Sehens.
„Intuition!“ ist die Ermöglichung des Dialogs mit einem längst Abgereisten. Es gibt, denkt man, unendlich viele Dialoge. Keiner ist mit dem anderen vergleichbar. Wenn morgen ein Meteorit die Erde träfe und alles Leben ausbliese, möchte man weinen, dass diese Bilder ungesehen bleiben.
Im Vorwort zum Ausstellungskatalog beschreibt Harald Kunde die Herausforderung: „Weder vorbehaltlose Heiligenverehrung noch der momentan gern praktizierte Sockelsturz durch Spätgeborene erweisen sich im Umgang mit dem Phänomen Beuys als produktiv, sondern allein der fortgesetzte Versuch, so präzise und lebendig wie möglich seine Arbeiten, seine Handlungen, seine Botschaften und seinen Humor miteinander in Beziehung zu setzen.“

Abseits

„Intuition!“ macht Beuys abseits aller kontroversen Möglichkeiten les- und erlebbar und den Kuratoren spürt man die ehrlich-ursprüngliche Freude an, mit der sie „Intuition!“ ausgedacht und ausgeführt haben. Die Ausstellung ist bis zum 3. Oktober zu sehen und am, Samstag, 19 Juni, um 15.30 Uhr eröffnet.

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